© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/04 29. Oktober 2004

Irrsinn mit Methode
Zuwanderungskommission fordert Zehntausende neuer Einwanderer
Kurt Zach

Auf welchem Planeten lebt Ex-Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth? Es muß ein Himmelskörper sein, auf dem man noch nie etwas von Arbeitsplatzverlagerung und Massenentlassungen gehört hat, auf dem die bittere Realität das gutmenschliche Glaubensbekenntnis nicht beeinflußt. Mit anderen Worten: ein ideologischer Planet. Anders ist die "Empfehlung" des ersten Jahresgutachtens des von Süssmuth präsidierten sechsköpfigen Sachverständigenrats für Zuwanderung und Integration nicht zu deuten: Deutschland brauche im kommenden Jahr dringend 25.000 eingewanderte Fachkräfte für Gesundheits- und Ingenieurwesen und Finanzdienstleistungen.

Der Zeitpunkt der Veröffentlichung hätte zynischer kaum gewählt werden können. Die Bochumer Opelaner standen zähneknirschend auf der Straße, weil Tausende Stellen und vielleicht ihr ganzes Werk gefährdet sind. Die Karstadter wußten nicht, wie lange sie noch ihren Job behalten. Landauf, landab die bange Frage, was aus Deutschland werden soll, wenn der industrielle Kern unserer Volkswirtschaft weiter wegbricht, weil Ausfuhrweltmeister Deutschland immer mehr Arbeitsplätze exportiert. Nur die CDU-Politikerin Süssmuth verkündet ungerührt, es fehle an Arbeitskräften und zusätzliche Einwanderung sei nötig, um diesen Mangel zu beheben.

Selbst Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) konnte da den gequälten Gesichtsausdruck nicht verbergen. Bald fünf Millionen Arbeitslose, über acht Millionen, wenn man die aus den Statistiken herausgemogelte "Reservearmee" dazunimmt, und da sollen 25.000 Fachkräfte nicht aufzutreiben sein? Was ist mit den Einwanderern, die schon da sind und nicht gebraucht werden? Und die eben erst eingeführten "Ein-Euro-Jobs", sollten da nicht die dringend benötigten Pflegekräfte schneller und billiger anzuwerben sein als durch Rekrutierung in Nicht-EU-Ländern? Und ist die EU nicht eben erst um zehn Länder erweitert worden, in denen gut ausgebildete Arbeitskräfte Gewehr bei Fuß stehen, um auf den deutschen Arbeitsmarkt zu drängen?

Die deutsche Politik muß sich also viel eher damit befassen, wie sie den bevorstehenden Massenansturm abwehrt und unter Kontrolle bekommt, statt neue Zuwanderungstüren zu öffnen. Doch solche rationalen Überlegungen haben in Ritas ideologischem Kosmos keinen Platz. Selbst wenn sie einmal gestreift werden, vermögen solche Erwägungen nicht das Axiom aller Gutmenschen zu stürzen, wonach das Heil für alle demographischen Probleme zuoberst in der Einwanderung zu suchen ist.

In dem 400 Seiten starken Gutachten finden sich dabei durchaus richtige Feststellungen - etwa, daß die Zuwanderung nach Deutschland "nicht ungesteuert, sondern fehlgesteuert" sei. "Wir haben zu viele Nichtqualifizierte ins Land geholt" - stimmt. Die einzig logische Konsequenz - qualifizieren oder heimschicken - wird indes nicht gezogen. Süssmuths multikulturelle Bekenntnisschrift verharrt in Widersprüchen, weil sie sich nicht aus dem ideologischen Denken der Achtziger und Neunziger lösen kann.

Sie schwadroniert über den reichen Erfahrungsschatz der Deutschen mit der "Integration" von "Zuwanderern", den man mit der Eingliederung von Vertriebenen, Flüchtlingen und Aussiedlern erworben habe - als könnte man Menschen, die sich durch harte Arbeit inmitten der eigenen Landsleute eine neue Existenz aufgebaut haben, einfach so mit Glücksrittern und Elendsflüchtlingen aus aller Welt vergleichen, die in ein fremdes Land gegangen sind, weil sie sich dort ein besseres Leben erhoffen.

Derlei Widersprüche mögen sich noch aus ideologischen Beschränktheiten der Kommissionsvorsitzenden erklären lassen, die offenkundig ignoriert, wie sehr sich unser Land seit den seligen Achtzigern, als man sich noch an Helmut Kohl reiben durfte, unter dem scharfen Wind der Globalisierung und der gnadenlosen weltweiten Konkurrenz verändert hat. Wo deutsche Fachkräfte - längst nicht mehr nur in der Produktion, sondern ebenso in Dienstleistung und Management - mit Konkurrenten in Osteuropa, Asien oder Indien um ihren Job kämpfen müssen, ist für eine großherzige Zuwanderungspolitik kein Raum mehr. Wir können uns nicht leisten, aus humanitärem Pflichtbewußtsein für ein paar Einwanderer, die uns nützen, ein Vielfaches an solchen, die uns ausnützen, in Kauf zu nehmen. Das dämmert inzwischen auch einigen in der rot-grünen Koalition, in der das Gutachten auf geteiltes Echo stieß. Einem demnächst arbeitslosen Opelaner dürften die Erwägungen Süssmuths schwer zu vermitteln sein, ahnten wohl Kritiker in der SPD-Bundestagsfraktion wie der arbeitsmarktpolitische Sprecher Klaus Brandner oder der innenpolitische Sprecher Dieter Wiefelspütz: "Das würde zu großem inneren Unfrieden führen."

Vollends unverständlich ist vor diesem Hintergrund, welcher Teufel DGB-Chef Michael Sommer geritten hat, der Süssmuth-Empfehlung derart frenetisch zu applaudieren. "Keine Frage, wir brauchen Zuwanderung", verkündete Sommer - wozu? Um der schrumpfenden Basis seines Verbandes noch mehr Konkurrenz ins Haus zu holen? "Im Grundsatz" ist Sommer auch für den EU-Beitritt der Türkei. Weiß der Mann, was er da sagt, was das für seine Klientel bedeutet? Käme es dazu, bräuchte sich niemand mehr um die Anwerbung von einigen zehntausend Arbeitskräften zu sorgen - ein Vielfaches davon käme ungefragt. Zu schweigen von den zusätzlichen Lasten für die sozialen Sicherungssysteme, die wiederum an denjenigen unter Sommers DGB-Mitgliedern hängenbleiben würden, die noch Arbeit haben.

Offensichtlich können sich die Gewerkschaftsbosse ebensowenig von ihren ideologischen Blockaden lösen wie Süssmuth. Kaum zufällig äußert sich niemand zu der paradoxen Situation, daß Arbeitnehmer über 50 trotz bester Qualifikation häufig chancenlos sind und per vorzeitigen Ruhestand abgebaut werden, während gleichzeitig Fachkräftemangel beklagt wird und durch Einwanderung behoben werden soll.

Gerade hier trifft die Gewerkschaften ein gerüttelt Maß an Mitschuld an der Misere. Die von ihnen maßgeblich mitbetriebene Politik der Frühverrentung hat dem Arbeitsmarkt viel wertvolles Potential und reiche Erfahrungsschätze entzogen. Wären die Gewerkschaften echte Arbeitnehmervertreter, müßten sie den Leuten sagen: Wer unter globalem Konkurrenzdruck steht, darf sich nicht selbst schwächen, sondern muß die eigenen Potentiale voll ausschöpfen. Völker, die glauben, andere würden die Arbeit für sie erledigen, während sie ihre Freizeit genießen, sind zum Untergang verurteilt. Wirtschaftswunder gibt es nicht geschenkt, sondern man muß sie sich verdienen.


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