© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/04 29. Oktober 2004

Gezeitenwechsel öffnet Horizonte
von Thorsten Hinz

Letzte Woche in der Zeit hat der Bochumer Zeitgeschichtler Nobert Frei es im Ton der Schicksalsergebenheit verkündet: Die "Erinnerungsschlacht" ist eröffnet, wir befinden "uns in einem erinnerungspolitischen Gezeitenwechsel". Ende offen. Im Feuilleton derselben Ausgabe attackiert der Regisseur Wim Wenders den Film "Der Untergang", der ein Element der von Frei skizzierten Entwicklung ist und sie katalysiert. Der Film nehme keine Haltung ein, wobei es Wenders, wie er betont, nicht um den moralischen Zeigefinger, sondern um die erzählerische Haltung geht, um den ästhetischen Aspekt also. Nichtsdestotrotz haben schon dreieinhalb Millionen Zuschauer den "Untergang" gesehen. Für einen deutschen Film, jenseits von Spaß-Ereignissen wie der "Schuh des Manitu" oder "Good Bye, Lenin", ist das eine ungewöhnliche Zahl. Was geht vor in Deutschland?

Bleiben wir zunächst beim Film. Künstlerisch ist "Der Untergang" kein großer Wurf - das ist Spielbergs "Schindlers Liste" ebenfalls nicht. Es kommt auch nicht darauf an. Es handelt sich um einen Bilderbogen, der die Berichte über die letzten zwölf Tage im sogenannten Führerbunker zuverlässig illustriert. Der Regisseur eines "richtigen" Hitler-Films, wie er Wenders wohl vorschwebt: der das Bunkerdrama als Abschluß eines furchtbaren Jahrzwölfts ins Bild setzt, gleichzeitig die NS-Herrschaft ins Kontinuum der deutschen Geschichte und - das muß nach heutigem Wissensstand sein - in die globalen Zusammenhänge einbettet, müßte die Fähigkeiten von Visconti ("Die Verdammten"), Pasolini ("Die 120 Tage von Sodom"), Sokurow (der "Berghof"-Film "Der Moloch") und womöglich Syberberg ("Hitler - ein Film aus Deutschland") in sich vereinen.

Dieses Genie ist nicht in Sicht, außerdem fehlen dafür die sachlichen und psychologischen Voraussetzungen. Dieser Ideal-Film müßte nämlich - wie "Der Untergang" das auf seine Weise ebenfalls tut - Sehgewohnheiten aufsprengen, gleichzeitig aber, weil eine elitäre Angelegenheit, ohne den Schutz überwältigender Zuschauerresonanz auskommen. Die Wirkung des Films bliebe also unter der Kontrolle derjenigen, die nach wie vor - wie Frei das formuliert - die Zugänge zum "historischen Erfahrungs- und Gedächtnisraum" kontrollieren und blockieren.

Wer sollte - und warum? - dieses voraussehbare Fiasko finanzieren? Bestenfalls würde es auf einen Film mit korrekt austarierter Opferquote hinauslaufen und der moralische Zeigefinger die Erzählhaltung in die Niederungen des Edelkitsches herabdrücken. In dem Film "In weiter Ferne, so nah" (1993), der Fortsetzung vom "Himmel über Berlin", ließ Wenders den uralten Heinz Rühmann - dem fälschlich vorgeworfen wird, aus Karrieregründen habe er sich von seiner jüdischen Frau scheiden lassen - über die Schuld meditieren, ehe ihm ein Engel, der aussieht wie Nastassja Kinski, den Versöhnungskuß auf die Stirn drückte.

Der "Untergang" erspart uns solche Szenen und beschränkt sich klugerweise auf das zur Zeit Machbare. Zwei Gründe erscheinen für den Erfolg als ausschlaggebend: Der Film befriedigt denselben Voyeurismus wie die Roya-lity-Filme des Rolf Seelmann-Eggebrecht oder die ZDF-Serie über die "Paläste der Macht" in London, Paris, Moskau. Weil Deutschland über kein vergleichbares Haus wie den Kreml oder den Elysée-Palast verfügt, wo Regierungsmacht und nationale Geschichte zusammenfinden und die den symbolischen Mittelpunkt ihrer Länder bilden, sondern nur über Adolf Hitler, mit, wegen und durch den alles gekommen sein soll, wollen wir halt wissen, wie es beim Führer unterm Sofa aussah.

Der zweite Grund: Es gibt im Film wichtigere Figuren als den bitterbösen Hitler oder den perfiden Goebbels. Beispielsweise den Militärarzt Dr. Schenk, der die Wahl hat, das von der Roten Armee fast eingeschlossene Berlin in Richtung Westen zu verlassen, der sich aber lieber um Verwundete kümmert. Macht ihn das etwa zum Vollstrecker Hitlers?

Unwillkürlich ertappt der Zuschauer sich bei dem Gedanken, daß dieser Mann menschlich wertvoller ist als so mancher Maulheld unserer Tage. Es gibt ausweglose Situationen, in denen Menschen, egal wie sie sich entscheiden, Schuld auf sich laden. Auch die normalen Lebensläufe während der NS-Zeit lassen sich nicht in Schwarz-Weiß-Kategorien pressen, sie bestehen aus einer Vielzahl von Grautönen. Man kommt der Lebenswelt der Groß- und Urgroßeltern, die unter Pauschalbeschuldigungen zugeschüttet worden ist, zumindest ansatzweise nahe. Der Zuschauerrekord ist ein Plebiszit gegen eine Vergangenheitsbewältigung, die von der Täter-Opfer-Pauschalierung lebt.

Ohne ein großes Kunstwerk zu sein, ist der Film vorbildlich, weil er den Moralisierungs- und Rechtfertigungsdruck abschmettert, der das geistig-kulturelle Leben in Deutschland häufig provinziell und langweilig macht. Kulturpolitisch könnte er sich als Eisbrecher für eine neue deutsche Filmkunst erweisen. Noch wäre ein Meisterwerk wie David Lynchs "Blue Velvet", mit dem die hinreißende Isabella Rosselini international bekannt wurde, hierzulande unmöglich. Der Film erzählt, wie in die saubere Plastikwelt der amerikanischen Mittelklasse das Böse in der Gestalt eines diabolischen Dennis Hopper eindringt. Von Hopper geht eine düstere Faszination aus, der sich sogar sein direkter Widerpart nicht entziehen kann. Es gibt eine Latenz des Bösen, die in jedem Individuum wohnt. Im deutschen Film würde Hopper auf den unvermeidlichen Nazi-Opa verkürzt. Diese politisch-moralische Korrektheit verbürgt die Eindimensionalität und Geheimnislosigkeit, die deutsche Filme so oft banal, vorhersehbar, langweilig machen.

Der Erfolg des "Untergangs" summiert sich mit den Diskussionen um das Zentrum gegen Vertreibungen, um Denkmäler, Gedenktage und den Bombenkrieg zu der prinzipiellen Frage, ob dieses Land noch imstande ist, geistige und mentale Souveränität zu gewinnen. Ist es endlich imstande, die Tunnelperspektive aufzugeben und damit aufzuhören, die Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts aus einem deutschen Drang zur Selbstzerstörung zu interpretieren? Kann es seinen verheulten Gesinnungsprotestantismus abstreifen und in Kunst und Kultur, in Geschichts- und Geisteswissenschaft und auf dem Gebiet des Politischen wieder relevante Fragen aufwerfen? Findet Deutschland zu geistiger Vitalität zurück? Mit dem "Gezeitenwechsel" scheint sich ein Fenster der Möglichkeiten zu öffnen.

Norbert Frei hält die von "den einstigen Flakhelfern (...) wie bald darauf den 68ern" in Gang gesetzte Vergangenheitsbewältigung für prinzipiell richtig, er räumt aber auch "manche Schwächen" ein. "Herrschaftsfrei" sei dieser Prozeß nicht gewesen, es sei um die "politisch-kulturelle Hegemonie" gegangen. Für die jetzige Veränderung führt er vor allem psychologische Gründe an, die Altersmilde und Einsicht der Kritiker, eine gewisse Scham über die Unduldsamkeit gegenüber der Elterngeneration usw.

Das trifft zu, aber nicht ins Zentrum. Die Gegenbewegung setzte in dem Moment massiv ein, als der Nationalsozialismus aus dem kommunikativen in das kulturelle Gedächtnis überführt werden sollte. Das heißt, die historischen Tatsachen schienen ein für alle mal geklärt, die juristische Ahndung von NS-Verbrechen war beendet, die Wiedergutmachung weitgehend abgeschlossen.

Jetzt sollte es darum gehen, den erreichten Bewußtseinsstand durch Rituale, Denkmäler, Namensgebungen usw. zu institutionalisieren und die NS-Verbrechen als zentralen Bezugspunkt des politischen Bewußtseins zu fixieren. Übereifrige deklarierten sogar Auschwitz zum "Gründungsverbrechen" des staatlichen Gemeinwesens. Damit war die völlige Abkoppelung von den Vorgängergenerationen intendiert - eine Naturwidrigkeit, vor der sogar Bewältigungsaktivisten zurückschauern. Plötzlich ist die Situation wieder unübersichtlich, es entsteht ein Bewußtsein dafür, daß hinter vorgeblichen Wahrheiten verborgene Machtinteressen stecken und manche Fragen deswegen unbearbeitet bleiben. Ernüchterung macht sich breit.

Vorbei sind auch die Zeiten, in denen die Selbstbezichtigungen einen subtilen Genuß bereiteten, denn der Wohlstand, der die Grundlage für den moralischen Hedonismus bildete, geht gerade perdu. Die Deutschen sehen sich aus der Rolle des Mustereuropäers, dessen Bewußtsein dem der anderen voraus ist, in die des dummen Michel versetzt, der herumgeschubst wird. Die demonstrative Selbstzerknirschung erweist sich im internationalen Konkurrenzkampf als Standortnachteil.

Der Schriftsteller Peter Esterházy hat das in seiner Friedenspreisrede in polemischer Zuspitzung formuliert: "Die Deutschen haben die eigenen Vergehen beim Namen genannt, die eigenen Leiden haben sie nicht beim Namen benannt. Die eigenen Missetaten durch die deutschen Missetaten zu verdecken ist eine europäische Gewohnheit. Der Haß gegen die Deutschen ist Europas Fundament in der Nachkriegszeit."

Gerhard Schröder, dessen geschichts-politische Äußerungen und Gesten widersprüchlich sind, scheint das zu ahnen. Sein Entschluß, die Berliner Flick-Sammlung persönlich zu eröffnen, ist nur mit Blick auf die Einweihung des Holocaust-Denkmals am 10. Mai 2005 zu verstehen, an der er ebenfalls teilnehmen wird. Seine freundlichen Worte an den Flick-Erben sollen signalisieren, daß er mit dem Denkmal keine neue, gegen Deutschland gerichtete Schulddebatte mehr eröffnen, sondern diese abschließen will.

Ob sich die Hoffnung erfüllt, ist fraglich. Wer geistige und moralische Souveränität einfordert, muß noch weiter gehen, muß bereit sein, sich von Mystifikationen zu befreien, die das Selbstbild der späten Bundesrepublik prägen. Das sei an Norbert Freis bekanntestem Buch "Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit" (1999) kurz erläutert.

Das Werk ist faktenreich, zeigt Zusammenhänge, Querverbindungen und Seilschaften auf, traut sich aber an grundsätzliche Fragen nicht heran. Für Frei sind die alliierten Handlungen wenn nicht durchweg gut, so doch sakrosankt. Ihm fehlt es, ganz ein Kind der Bundesrepublik, an historischer Empathie und der Fähigkeit, in machtpolitischen Kategorien zu argumentieren. Was nicht in seine Vorstellungen einer "richtigen" Vergangenheitspolitik paßt, bürstet er entweder als paranoid oder amoralisch ab. Die frühe Kritik der Evangelischen Kirche Deutschlands an alliierten Gerichtsverfahren im besetzten Deutschland sei nur "schlecht verhülltes nationales Ressentiment gegenüber einer angeblichen 'Siegerjustiz'".

Das "angeblich" zu begründen, erspart Frei sich. Er zitiert den bekannten Journalisten Paul Sethe, der die Nürnberger Nachfolgeprozesse als eine "Art von verfeinerter Morgenthau-Politik" bezeichnete, denn "indem man plötzlich viele Industrielle, Offiziere und hohe Beamte als Verbrecher brandmarkte, sollten die führenden Schichten des Volkes ins Mark getroffen werden, sollte aber auch das einfachste Selbstgefühl der Deutschen verwundet werden" Die "Verwirrung", die Sethe überall sah, weiß Frei, war "vor allem seine eigene".

Frei betätigt sich als Priester einer Befreiungsmystifikation, die er gar nicht als solche durchschaut. Kein Gedanke daran, daß die "bedingungslose Kapitulation" die Zerstörung der NS-Herrschaft mit der Ausschaltung Deutschland als "einer souveränen Großmacht, ja, der Rolle einer eigenständigen mittleren Macht" verbinden sollte. "Es sollte in Mitteleuropa gleichsam 'tabula rasa' geschaffen werden." (Andreas Hillgruber)

Es ist also viel zu tun. Zu glauben, die Veränderungen in der Geschichtspolitik vollzögen sich im Selbstlauf bzw. man könne sie dem etablierten akademischen Betrieb überlassen, wäre trotz der neuen Entwicklungen naiv. Im aktuellen Mitgliederkatalog der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt, einer für den Wissenschaftsbetrieb nicht ganz unwichtigen Institution, stellt Peter Mallmann, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Stuttgart, auf einer Doppelseite eine neue, großangelegte Buchreihe zur "Täterforschung" vor. Er bemängelt, daß in Deutschland die "Abwehr des Kollektivschuldverdachts" gelungen sei, denn "statt strikter Geheimhaltung wird breite Öffentlichkeit erkennbar, statt Zwang und blindem Gehorsam kommen Einfallsvermögen, Lust und Hingabe zum Vorschein, statt des behaupteten Widerwillens Beutementalität, Leichenfledderei und Grausamkeit, statt Gleichgültigkeit Fanatismus und Gläubigkeit, statt Autoritätshörigkeit das Vorhandensein verwurzelter Überzeugungen." Goldhagen befiehl, wir folgen!

Man muß deshalb nicht immer nur Hitler gucken. Im Kino läuft gerade Oskar Roehlers Film "Agnes und seine Brüder". Es geht um die Söhne eines wotanhaften Alt-68ers, der in seiner bedrohlichen Präsenz auch einen Hell's Angel abgeben könnte. Der älteste Sohn ist ein karrieristischer Grünenpolitiker, der während des Telefonats mit "Joschka" seine Notdurft verrichtet (vulgo: Sch... produziert), der zweite ist ein Transsexueller und der jüngste ein schwitzender Selbstbefriediger, gespielt von Moritz Bleibtreu. Eines Nachts nimmt er die väterliche Jagdflinte und drückt ab. Am Morgen danach beginnt sein Tag der Befreiung!

 

Thorsten Hinz, Jahrgang 1962, studierte Germanistik und ist langjähriger JF-Autor.

Foto: Bruno Ganz als Adolf Hitler in dem Kinofilm "Der Untergang": Weil Deutschland über kein vergleich-bares Haus wie den Kreml oder den Elysée-Palast verfügt, wo Regierungsmacht und nationale Geschichte zusammenfinden und die den symbolischen Mittelpunkt ihrer Länder bilden, sondern nur über Adolf Hitler, mit, wegen und durch den alles gekommen sein soll, wollen wir halt wissen, wie es beim Führer unterm Sofa aussah.


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