© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/04 05. November 2004

Aus dem Geiste des poetischen Realismus
Eine kongeniale Deutung von Leben und Werk des preußischen Historikers Erich Marcks
Nicolaus Knauer

Wäre Magdeburg während des Dreißigjährigen Krieges noch gründlicher zerstört worden, dann hätte er dort nicht 1861 das Licht der Welt erblicken können. Unüberhörbar war in dieser resignativen Wendung des alternden, von "Schlafsucht" geplagten Berliner Historikers Erich Marcks der weitergehende Wunsch formuliert, er hätte das irdische Jammertal weder in Magdeburg noch anderswo je betreten müssen.

Mehr als einmal zitiert Jens Nordalm, der seine jetzt gedruckte Doktorarbeit über Erich Marcks 2001 in Bonn vorgelegt hat, solche Äußerungen aus der Tiefe des "dunklen Gemüts" seines "Helden". Nach dem Soldatentod seines ältesten Sohnes im Herbst 1914, spätestens aber mit dem Ende der preußischen Monarchie wächst sich die schon in früher Jugend für ihn charakteristische "nervöse Schwächlichkeit" und "Kraftlosigkeit" zu einem depressiven Lebensgefühl aus, das zugleich seine "Zeitferne" bedingt.

Diese mentale Rückzugsbewegung steht in herbem Kontrast zur öffentlichen Bedeutung eines Mannes, der kurz nach seiner Berufung an die Berliner Universität (1922) zum Historiographen Preußens ernannt wurde, der mit seinen Biographien über Kaiser Wilhelm I. (1897) und Bismarck (1915) höchste Auflagen erzielte und als einer der führenden Historiker seiner Zeit galt. Nordalm, gestützt auf gründlichste Kenntnis des im Generallandesarchiv Karlsruhe verwahrten Nachlasses und eine imponierend vollständige Erschließung der Marcks-Briefe in den Nachlässen seiner Kollegen und Freunde, akzentuiert diesen Kontrast deshalb so stark, weil ihn die aktuelle wissenschaftspolitische Ausgangslage dazu zwingt.

Marcks zählte nämlich nach 1945, präziser gesagt "nach 1968", eher zu den - mit Walter Kempowskis Rostocker Jargon zu sprechen - "wahren Übelmännern" der Zunft. Früh (1962) hatte ihn Hans-Heinz Krill mit Max Lenz zusammen als "Neorankeaner" etikettiert. In dieser Lesart dessen, was unter historiographischer Ranke-Tradition verstanden werden müsse, wäre Marcks ein Verfechter des Primats der Außenpolitik gewesen, einer, der die "Haupt- und Staatsaktionen", die Diplomatiegeschichte, die Taten großen Männer, das Walten metahistorischer "Ideen" im Weltgetriebe zu Lasten wirtschafts-, sozial- oder allgemein kulturhistorischer Deutungsmuster favorisiert habe. Im Anschluß an Krill ist dann die Legende von Neorankeaner Marcks fortgeschrieben und ausgeschmückt worden, hat sich inzwischen auch lexikalisch verfestigt. SPD-Historiker wie Bernd Faulenbach oder Gesinnungsgenossen wie Elisabeth Fehrenbach, Wolfgang Michalka und Rüdiger vom Bruch haben die politischer Korrektheit geschuldeten Ergänzungen vorgenommen, indem sie Marcks zum Alldeutschen, Annexionisten, Republikgegner, Antidemokraten und selbstredend "Wegbereiter" des Nationalsozialismus stilisierten.

Gegen diese politizistischen Verzeichnungen ist Nordalm angetreten. Darum verwendet er soviel Raum, um Blicke in Marcks' "schwarze Seele" zu eröffnen. Ein Mann nämlich, der so skrupulös, so unentschieden, so indifferent ist, der sich meistens "unzeitgemäß" fühlt, ein Historiker mit einem solchen Temperament und Lebensgefühl taugt schwerlich zum nationalen Scharfmacher. Und so fällt es Nordalm denn auch nicht schwer, ausgehend von seiner quellenkundigen Vertrautheit mit dem "Privatmann" Marcks, dessen erster Biograph er ist, anhand des publizistischen Engagements nachzuweisen, daß nicht nur tiefe Differenzen diesen Historiker von den wahren "Neorankeanern" trennen.

In dem Bemühen, Marcks der kleinen wirtschafts- und sozialhistorisch aufgeschlossenen Kohorte unter den wilhelminischen Historikern zuzuschlagen, schießt Nordalm vielleicht etwas über das Ziel hinaus, indem er viel zu viele Belege häuft, wo der Sachverhalt bald aufgrund einiger biographischer Tatbestände und Textbefunde hinreichend geklärt ist; aber der "grundlegende Dissens" zur Schule wahrer Neorankeaner, für die Geschichte in der Darstellung des Kampfes "großer Mächte" aufgeht, ist am Ende zweifelsfrei erbracht. Desgleichen fällt es Nordalm relativ leicht, die Distanz Marcks' zum annexionistischen Alldeutschtum in den Kriegszieldebatten während des Ersten Weltkrieges darzulegen. Ebenso facettenreich analysiert er die Haltung des Historikers zur Weimarer Republik, die nun wohl nie wieder auf plumpen "Antidemokratismus" zu reduzieren ist.

Nordalm registriert nach 1926 unverkennbare Annäherungen, wenn auch Marcks wegen der Wehrpolitik der ungeliebten "Sozzen" sich nicht in die Front der "Vernunftrepublikaner" seines Freundes und Kollegen Friedrich Meinecke einreihen mochte. Bei einem unerschütterlichen Bismarck-Bewunderer, der aber kaum ein Exponent des "Bismarck-Kultes" ("kein erhellender Begriff") war, wie Nordalm gegen eilfertige Schablonisierer wie Bernd Faulenbach nachweist, ist es natürlich nicht verwunderlich, daß Marcks, obwohl aus deutschnationaler Sicht des Kollegen Dietrich Schäfer eher ein unsicherer Kantonist, in einer "Wendung nach rechts" das politische Heil gesehen hat. Das schloß keinesfalls ein Votum für die NS-Bewegung ein, ermöglichte aber deren skeptische Duldung und - ab 1933 - Hinnahme von "Bedenklichem". Die Präsidialkabinette unter Brüning, Papen und Schleicher schienen Marcks' erträglicher als eine riskante Kanzlerschaft Adolf Hitlers.

Bemerkenswert ist, daß Nordalm in diesem Kontext kaum ein Wort darüber verliert, welchen Einfluß der Umstand auf Marcks' politische Urteilsbildung hatte, daß sein Sohn Erich zu den allerengsten Mitarbeitern Kurt von Schleichers zählte. Denn anders als Schleicher, der 1934 ermordet wurde, war dem Meinecke-Schüler Erich Marcks jr. - einer höchst bemerkenswerten Verkörperung des akademisch gebildeten preußischen Offiziers - noch eine große militärische Karriere beschieden, die für den General der Artillerie erst am 12. Juni 1944 an der Cotentin-Invasionsfront in der Normandie im Kugelhagel eines US-Jagdfliegers endete. Diesen Tod hat der im November 1938 verstorbene Marcks glücklicherweise sowenig miterleben müssen wie den seiner beiden in Rußland gefallenen Enkelsöhne.

Angesichts der von Nordalm sehr ausführlich gewürdigten, auf "Anschauung" und "Einfühlung" beruhenden Methode des begabten Psychologen und des um "künstlerische" Gestaltung bemühten Historikers ist zu konstatieren, daß Marcks in dem Bonner Doktoranden einen ihm kongenialen Biographen gefunden hat.

Trotz aller Sympathien, die man für sein Unterfangen hegt, mit einer differenzierenden Darstellung der Lebensleistung Marcks' zugleich den Historismus gegen seine "Verächter" rehabilitieren zu wollen, wird man hier wohl die erste große Schwäche dieser sonst so soliden Arbeit entdecken können, da Nordalm sich etwas überhebt. Ähnlich unbefriedigend fällt das erste Kapitel über den Historiker als "Künstler", über Marcks' "Geschichtsschreibung aus dem Geiste des 'poetischen Realismus'" aus. Hier hätte man doch gerne mehr darüber gewußt, wie "geschichtlich-historische Konstruktion" im "Medium der Erzählung" Sinn und Bedeutung vermittelt. Allein Ausführungen über "Stil" und "Formen des Erzählens", wie sie Nordalm hier vorträgt, reichen nicht aus, um zu erklären, warum die vom Historiker fabrizierten "Bilder" dazu taugen, "Vergangenheit" für ein Lesepublikum "zu erwecken". 

Erich Marcks (Foto um 1930): Um "Einfühlung", "Anschauung" und "künstlerische Gestaltung" bemühter Produzent von "Vergangenheit"

Jens Nordalm: Historismus und moderne Welt. Erich Marcks (1861-1938) in der deutschen Geschichtswissenschaft, Duncker&Humblot, Berlin 2003, kartoniert, 414 Seiten, 98 Euro.


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