© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/04 05. November 2004

Im Westen war die Einheit nicht gewollt
Nur noch wenige richteten ihre Politik an einer Wiedervereinigung Deutschlands aus
Detlef Kühn

Am frühen Morgen des 10. November 1989 erreichte mich in Bonn ein Anruf meiner Verwandten in Texas. Sie waren von der Arbeit nach Hause gekommen und sahen im Fernsehen die auf der Berliner Mauer tanzenden Menschen. Da wollten sie mir nur schnell zur Wiedervereinigung Deutschlands gratulieren.

Ein paar Jahre vorher hatten wir am Brandenburger Tor vor der Mauer gestanden und überlegt, wie das hier wohl weitergehen werde. Meine Verwandten wollten wissen, ob die DDR unter Umständen auch ohne dieses schreckliche Bauwerk existieren könnte. Ich meinte: Nein, verwies auf die mangelnde nationale Identität, die in der Bevölkerung vorhandene Unzufriedenheit mit den politischen und sozialen Verhältnissen und die daraus folgende Neigung zu Auswanderung oder Flucht. Ohne Mauer könne die DDR nicht existieren, sagte ich. Ihr Fall wäre deren Ende. Daran erinnerten sich meine Verwandten jetzt und gratulierten daher zur Wiedervereinigung.

So weit war man damals in Deutschland noch nicht. Am Vorabend hatten im Bundestag die Abgeordneten spontan das Deutschlandlied angestimmt und Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland angemahnt. An die Konsequenz der Einheit wagte aber kaum jemand zu denken, geschweige denn davon zu sprechen. Politik und Medien begrüßten zwar einhellig die neu gewonnene Reisefreiheit für die Landsleute in der DDR. Mehr mochte aber niemand sagen. Zu sehr hatte man die seit Jahren gebetsmühlenartig wiederholten Dogmen verinnerlicht: Die Teilung ist die berechtigte Strafe der Deutschen für die unter dem Nationalsozialismus begangenen Verbrechen. Sie sichert das Gleichgewicht der Kräfte im Kalten Krieg und damit den Frieden in der Welt. Unseren Nachbarn ist ein vereintes Deutschland wegen seines Machtpotentials nicht zuzumuten. Auch die Menschen in der DDR wollen die Einheit gar nicht, sondern nur mehr Freiheit und Wohlstand.

Vereinigung stand bei Kohl nicht auf der Tagesordnung

Bundeskanzler Kohl hatte stets darauf hingewiesen, daß die Wiedervereinigung nicht auf der Tagesordnung der Weltgeschichte stehe. Wenn jemand wagte, ihn an seinen Amtseid zu erinnern und eine operative Wiedervereinigungpolitik einzufordern, hatte er, wie der CDU-Bundestagsabgeordnete Bernhard Friedmann, noch Glück, wenn er mit dem Verdikt "blühender Unsinn" davonkam und später auf einen gut bezahlten Posten in Europa weggelobt wurde. Andere wurden als den Frieden gefährdende Nationalisten und Neutralisten gebrandmarkt und entsprechend bekämpft. Das war in den Regierungsparteien nicht anders als bei der Opposition. Noch vierzehn Tage nach dem Mauerfall verkündete der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin, Walter Momper (SPD), auf einer Tagung des Aspen-Instituts am Wannsee seinen kopfschüttelnden amerikanischen Hörern voller Genugtuung, er habe im Fernsehen die Transparente der Demonstranten in Leipzig sorgfältig studiert und nichts von Einheit gelesen. Die Leute hätten nur darauf hingewiesen, sie seien das Volk. Als hätten sie Momper gehört und wollten ihn widerlegen, trugen die Demonstranten am folgenden Montag Schilder mit Aufschriften wie "Wir sind ein Volk" oder "Kommt die D-Mark bleiben wir, kommt sie nicht, geh'n wir zu ihr." Nun endlich, fast drei Wochen nach dem Mauerfall, wagte auch Bundeskanzler Kohl in seinem kurzfristig erstellten Zehn-Punkte-Plan, konföderale Strukturen für Deutschland in Erwägung zu ziehen. Mit den Realitäten in der DDR hatte das nur noch wenig zu tun. Hier hatte die Bevölkerung längst erkannt, daß Wohlstand und Freiheit nur in der Einheit zu haben waren. Die Politiker in Ost und West waren jetzt Getriebene.

Bis heute wird gerätselt, warum unsere politische Klasse in den siebziger Jahren mit wenigen Ausnahmen auf die Verfolgung nationaler Ziele verzichten wollte und darauf sogar stolz war. Wahrscheinlich gibt es nur tiefenpsychologische Erklärungen. Immerhin kann man den Vorgang recht genau beschreiben. Er hat etwas mit der 68er-Bewegung zu tun, mit den Studenten, die zu Intellektuellen heranreiften und glaubten, ihre Eltern dadurch bestrafen zu können, daß sie alles ablehnten, was dieser Generation einst wichtig war - vor allem das Nationalgefühl.

Daß man mit dieser "Nationsvergessenheit", die Hand in Hand ging mit der "Machtvergessenheit", allein stand, war gleichgültig. Die anderen waren eben noch nicht so weit. Wir waren die besseren Europäer, ja richtige Weltbürger! Am deutschen Wesen sollte die Welt genesen. Diese Intellektuellen, die leider nicht intelligent waren, merkten nicht, daß die Hybris, die sie ihren Altvorderen vorwarfen, sie selbst gepackt hatte.

Man haßte sich selbst, weil man deutsch war

Verstärkt wurde dies durch eine Spätfolge der "Reeducation" nach dem Kriege, die sich erst eine Generation später voll auswirkte: Man haßte sich selbst, weil man deutsch war. Weil die ganze deutsche Geschichte wie ein Auszug aus dem Strafregister dargestellt wurde, mochte man sich mit ihr nicht einmal in Teilen identifizieren. Aber ohne eine grundsätzlich positive Einstellung zur eigenen Geschichte kann es auch für Deutsche keine (nationale) Identität geben. Die Flucht in das Europäertum scheitert schon deshalb, weil unsere Nachbarn wissen, daß Europa nur die Summe seiner Nationen ist. Sie haben viel gemeinsam, unterscheiden sich aber, objektiv und in ihrem Selbstverständnis, deutlich voneinander. Wer diese Unterscheidungsfähigkeit verliert, wird von den Nachbarn nicht mehr ernst genommen.

Kürzlich hat der CSU-Politiker Michael Glos im Zusammenhang mit der Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU "eine Art Deutschenhaß in manchen Kreisen" konstatiert, "weshalb man in Teilen der Linken hofft, daß es Deutschland nicht mehr gibt". Er hat damit wütende Reaktionen des SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering ausgelöst. Die Hoffnung, daß es Deutschland nicht mehr geben möge, ziert aber nicht nur manche Hauswand ("Deutschland verrecke!"). Sie stand auch vor zwanzig Jahren hinter dem Wunsch, sich mit der Teilung abfinden zu dürfen. Damals haben die Deutschen in der DDR, die nicht von des Gedankens Blässe angekränkelt waren, diese Hoffnung zunichte gemacht. Ob sich dieses Wunder wiederholt? 

 

Detlef Kühn war von 1972 bis 1991 Präsident des Gesamtdeutschen Instituts in Bonn.


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