© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/04 05. November 2004

Osterhasen zu Weihnachten
Medien: Wenn der 9. November auf einen 28. Oktober fällt, gehen journalistische Gepflogenheiten vor die Hunde
Thorsten Thaler

Wann ist eigentlich der 9. November? Natürlich kommenden Dienstag, werden jetzt einige Schlaumeier sagen. Allein die Antwort ist - falsch! Der 9. November ist mitnichten da, wo er hingehört, vielmehr ist der 9. November am - 28. Oktober. Jedenfalls nach der Zeitrechnung der Zeit. Die Hamburger Wochenzeitung machte an diesem Tag mit der Erinnerung an den Mauerfall am 9. November vor fünfzehn Jahren auf und titelte neben dem Bild eines 15jährigen Mädchens aus Vorpommern: "Ich habe die Mauer nie gesehen". Das Zeit-Ressort "Leben" stand komplett im Zeichen des Jahrestages ("Geboren am 9. November", "Ein Ort, zwei Welten", "Paar für Paar zur Einheit" usw.usf.), und auch in anderen Ressorts war der Mauerfall Anlaß für Reflexionen unterschiedlichster Art, so im Dossier ("Ein Klassentreffen") und im Feuilleton ("Wohlfühlland ist abgebrannt").

Am meisten irritiert daran, wie gesagt, das Erscheinungsdatum 28. Oktober. Zugegeben, alle Wochenzeitungen - die JUNGE FREIHEIT bildet da keine Ausnahme - stehen vor der Gretchenfrage, wann sie über Jahres- bzw. Gedenktage, die zwischen zwei Erscheinungsterminen liegen, berichten sollen: vorher oder nachher? Eingebürgert hat sich die Vorabberichterstattung - mit der irrwitzigen Folge, daß immer mehr Zeitungen und Magazine inzwischen einen regelrechten Wettlauf veranstalten, wer als erstes mit seinen Geschichten auf dem Markt ist. So werden nicht nur gedenkwürdige Ereignisse tage-, manchmal wochenlang vorher beleuchtet, auch gängige Termine wie Erstverkaufstage von Büchern oder Filmstarts im Kino werden vorsätzlich ignoriert, zuletzt geschehen beim Hitler-Film "Der Untergang". Gute journalistische Gepflogenheiten gehen so vor die Hunde.

Es ist ein bißchen wie mit den ersten Schokoladenweihnachtsmännern, die bereits Anfang September feilgeboten werden. Wer zu früh zuviel davon konsumiert, beraubt sich jeder Vorfreude und bekommt nur Bauchschmerzen.


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