© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/04 19. November 2004

Besinnung auf das Eigene
von Michael Wiesberg

Die konsequente Analyse einer möglichen Entwicklung des deutschen Föderalismus lasse, so Bernd-Thomas Ramb auf dem Forum der JF (47/04: "Die Auflösung der Republik") nur einen Schluß zu: Die Bundesrepublik müsse in mehrere autonome deutsche Staaten aufgelöst werden, weil der deutsche Föderalismus aufgrund der politischen und so-zialstaatlichen Entwicklungen nicht mehr zeitgemäß sei. Verfassungsrechtliche Bedenken wischt Ramb mit dem Hinweis vom Tisch, daß mit der "fortlaufenden Preisgabe staatlicher Ent-scheidungsrechte" und der Delegierung von "Verwaltungskompetenz auf die europäische Ebene eine Erosion der Bundesrepublik" bereits eingeleitet sei, ohne "daß ein Veto des Bundesverfassungsgerichts erfolgte".

Die von Ramb vorgetragene Roßkur läßt Erinnerungen an den Deutschen Bund wach werden, der im Juni 1815 nach dem Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation auf dem Wiener Kongreß als lockerer Zusammenschluß von 38 deutschen Einzelstaaten gegründet wurde. Bekanntlich stand die Mehrheit der Deutschen schon damals nicht hinter diesem Konstrukt, weil ihm das Moment der Zusammengehörigkeit fehlte. Die vielen Gemeinsamkeiten (Sprache, Kultur und Geschichte) motivierten damals insbesondere viele junge Leute, Burschenschaften zu gründen, die die nationale Sache zu ihrer eigenen machten.

Zu einer Konstruktion, die dem Deutschen Bund ähnelt, möchte Ramb nun offenbar zurück. Ins Feld führt er in erster Linie utilitaristische Argumente. So zum Beispiel das Argument, der deutsche Einfluß könnte durch autonome deutsche Einzelstaaten steigen, das er allerdings gleich wieder relativiert, da er mit Recht darauf hinweist, daß dieser Effekt eine europäische Zustimmung erschweren, wenn nicht verhindern könnte. Das "europäische Trauma vor einem starken Deutschland" könnte "von der größeren Furcht vor einer zu großen Ansammlung deutschen Einflusses über deutsche Länder abgelöst werden".

Ein weiteres Argument ist nach Ramb die Dezentralisation der Macht, die die Möglichkeit der Vergleichskontrolle eröffne. Es entstehe eine "potentielle Wettbewerbssituation zwischen den deutschen wie auch anderen europäischen Staaten um die effizienteste politische Gestaltung und Verwaltung". Dieses Szenario ist nach Ramb schon deshalb so irreal nicht, weil die zerrütteten Staatsfinanzen und ein Länderausgleich, der produktive Bundesländer über Gebühr belaste, den Zerfall der Bundesrepublik beschleunigen werden - ähnlich wie den der Sowjetunion und Jugoslawiens.

Dieser Vergleich ist allerdings wenig überzeugend, handelte es sich bei der Sowjetunion und Jugoslawien doch um künstliche Staatsgebilde, in die viele Ethnien gegen ihren Willen hineinge-zwungen worden waren. Deshalb war ihre Lebenszeit beschränkt. Nach der Logik von Ramb hätte Deutschland bereits 1929 oder 1930, also in der Zeit in der Weltwirtschaftskrise, auseinanderfallen müssen, was bekanntlich nicht geschah. Die Gemeinsamkeiten wogen zu schwer, und dies dürfte - solange die Deutschen in Deutschland noch die Mehrheit stellen - auch in Zukunft so bleiben.

Einem nationalkonservativ Denkenden verbietet sich Rambs Szenario aber noch aus anderen Gründen: Die Zerstückelung Deutschlands gehörte zu den eindeutigen Kriegszielen der Alliierten. Sie jetzt, nach der mühsam errungenen Wiedervereinigung mit Mitteldeutschland aus rein pragmatischen Gründen zur Disposition stellen zu wollen, hieße, die am 8. Mai 1945 besiegelte Niederlage Deutschland wirklich "total" zu machen.

Die bedrohliche demographische Schrumpfung der Deutschen in Verbindung mit der Auflösung des deutschen Bundesstaates führt nicht zu mehr Effizienz oder Einfluß, sondern zur definitiven Verabschiedung der Deutschen aus der Politik. Eine neuerliche "Verrheinbundisierung" wäre vorgezeichnet. Ausländische Mächte wie weiland das Frankreich Napoleons würden mit Sicherheit die Gelegenheit wahrnehmen, den Spaltpilz zwischen die deutschen Staaten zu tragen. Zu jener Zeit hat die gemeinsame Kultur und Sprache wenig gegen Napoleons Druck bewirken können. Allein diese Erfahrungen verbieten eine Selbstauflösung Deutschlands.

Die hier eher eklektisch vorgetragenen Argumente, die auf die geschichtlichen Erfahrungen der Deutschen rekurrieren, sind durch verfassungsrechtliche zu ergänzen. Die Konzeption der Bundesrepublik, wie sie in Art. 20 Abs. 3 GG niedergelegt ist, konstituiert die Republik ausdrücklich als Bundesstaat. Diese Konzeption stellt einen bewußten Kontrapunkt zum Zentralstaat der Nationalsozialisten dar und kann nach Art. 79 Abs. 3 GG nicht mehr geändert werden. Es handelt sich hier um die sogenannte "Ewigkeitsklausel", die die Abänderung fundamentaler Verfassungsprinzipien ausschließt.

Diese Verfassungsprinzipien sind in den Artikeln 1 (Menschenrechte) und 20 (Strukturprinzipien) näher definiert. Sie wurden von den "Vätern des Grundgesetzes" als eine Art Naturrecht bestimmt, das der menschlichen Verfügungsgewalt entzogen ist. Sprich: Der deutsche Bundesstaat kann schon deshalb nicht in autonome Teilstaaten aufgegliedert werden, weil dafür die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen fehlen. Darüber hinaus sieht Art. 20, Abs. 4 GG sogar ein Widerstandsrecht gegen jeden vor, der versucht, die verfassungsmäßige Ordnung zu beseitigen: "Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist."

Es kann also in der Frage der bundesstaatlichen Verfaßtheit Deutschlands keinen Dissens unter Staatsrechtlern geben, wie Ramb insinuiert.

Natürlich kann immer noch mit dem provisorischen Charakter des Grundgesetzes argumentiert werden. Das Grundgesetz sollte nach dem Willen der westlichen Siegermächte nur bis zur Herstellung der deutschen Einheit Gültigkeit haben. Vertreter aller im Bundestag vertretenen Parteien wiesen nach der Wiedervereinigung darauf hin, daß das Grundgesetz sich "bewährt" habe und deshalb beibehalten werden sollte. Damit hat es den Charakter eines Provisoriums verloren. Dies gilt auch dann, wenn man sich mit Ernst Forsthoff bewußt ist, daß das Grundgesetz nicht "das Ergebnis einer politischen Entscheidung ist, sondern das Produkt einer Lage, genauer eines Zustandes beispielloser Schwäche als Folge der Verwüstungen des verlorenen Krieges". Schon Forsthoff aber stellte bereits Anfang der siebziger Jahre fest, daß das Grundgesetz seinen "provisorischen Charakter" verloren habe. Vor diesem Hintergrund sinkt das Gedankenspiel, das Ramb anstellt, bestenfalls zu einer Art Glasperlenspiel herab.

Weiter schreibt Ramb: "Das Ende der Bundesrepublik 'nach oben' zuzulassen, eine Auflösung 'nach unten' aber zu untersagen, wäre eine schwer verständliche Verfassungsinterpretation." Ist die hier behauptete "Auflösung nach oben" bzw. die nicht mehr effektive föderale Verfaßtheit der Bundesrepublik wirklich ein hinreichender Grund für eine Auflösung Deutschlands in Einzelstaaten? Ist nicht die "Auflösung nach oben" vielmehr ein Ausdruck mangelnder Interessenwahrnehmung und -durchsetzung durch deutsche Politiker? Was wäre gewonnen, wenn diese Politiker in deutschen Kleinstaaten so weitermachten wie vorher? Wahr ist, daß sich die Bundesrepublik das am stärksten dezentralisierte und damit schwerfälligste System der Willensbildung und Entscheidungsfindung in europapoli-tischen Fragen leistet. Eine geschlossene deutsche Interessenvertretung in Brüssel findet nicht statt. Schnelle und zeitnahe Entscheidungen auf neue Entwicklungen in Brüssel sind damit oft genug nicht möglich. Eine strategische Konzeption der deutschen Europapolitik in den EU-Ratsverhandlungen ist nicht erkennbar. Die Folge: Die Bundesrepublik wird von Initiativen der Kommission immer wieder überrascht, weil sie kaum Einfluß auf deren Entstehung nimmt.

Die Inflexibilität deutscher Interessenvertretung führt des weiteren dazu, daß die Bundesrepublik im Ministerrat "überdurchschnittlich oft überstimmt wird", wie es zutreffend im Diskussionspapier "Die Europafähigkeit des deutschen Bundesstaates stärken" der Bertelsmann Stiftung zum Föderalismus-Dialog vom 10. Mai 2004 heißt. Hier wird weiter festgestellt: "Auch in den laufenden Beratungen der Bundesstaatskommission besteht bereits breites Einvernehmen darüber, daß die mangelnde Bündelung und Koordination europapolitischer Verantwortlichkeiten auf Bundesebene eine wesentliche Ursache für den schwachen Europaauftritt Deutschlands ist ..." (Hervorhebung im Text). Daß eine Auflösung Deutschland in Teilstaaten einen Ausweg aus diesem Dilemma darstellen könnte, mag glauben, wer will.

Kommen wir an dieser Stelle auf den immer wieder gescholtenen Föderalismus deutscher Prägung zu sprechen, der von bestimmten Kreisen als "nicht mehr zweckmäßig" denunziert wird. Insbesondere "Wirtschaftsexperten" behaupten immer wieder, der deutsche Föderalismus sei ein "massiver Standortnachteil" und eine der zentralen Ursachen für die ökonomischen Probleme Deutschlands.

Aus diesem Grund wurde eine Re-formkommission unter Leitung von Edmund Stoiber und Franz Müntefering eingesetzt. Diese Kommission soll zu einer Klärung der Machtbefugnisse beitragen. Die Zahl der Gesetze, denen die Länder zustimmen müssen, soll deutlich reduziert werden. Moniert wird weiter, daß der Föderalismus teuer sei: Immer einflußlosere Länderparlamente müßten unterhalten werden, dazu Verwaltungen und Gerichte. Deshalb wird immer wieder die Zusammenlegung von Bundesländern empfohlen. Und schließlich soll der Föderalismus die Gefahr in sich bergen, die Einheit des Gesamtstaates, sprich: den Bund, zu zerstören.

Dem soll hier die These gegenübergestellt werden, daß nicht der Föderalismus der Kern der deutschen Malaise ist, sondern der Egalitarismus. Der Po-litikwissenschaftler Walter Leisner hat festgestellt, daß ein Gleichheitsstaat (wie der deutsche; die Stichwörter lauten: "Vereinheitlichte Lebensverhältnisse" oder "Gleichheitsgerechtigkeit") "nie wirklich föderalisiert", sondern bestenfalls "dezentralisiert" sein könne. Nicht der Föderalismus ist deshalb nicht mehr zeitgemäß, sondern das ihn lenkende Egalitätsprinzip.

Was geschehe eigentlich in den zahllosen Kommissionen von Bund und Ländern, in den Landesministerkon-ferenzen und dergleichen mehr, fragte Leisner. Im Grunde geschehe immer nur eines: "die völlige Gleichschaltung von Bund und Ländern und zugleich, über diese Bewegung, die Konzentration der Macht bei der Ministerialgewalt des Bundes". Alles vollzieht sich "im Namen jener Einheit der Lebensverhältnisse, die nur ein schönes Wort ist für die Nivellierung der Republik".

Deshalb wird Föderalismus heute vor allem mit Konflikten um die Finanzverfassung, die Verteilung der Steueraufkommen und den Finanzausgleich assoziiert. Der Gleichschaltungszwang im Namen der Herstellung vergleichbarer Lebensverhältnisse geht heute nicht zuletzt von der EU aus. In dessen Sog ist auch der Föderalismus geraten, in dem sich eigentlich Eigenarten oder Besonderheiten erhalten sollen.

Nichtsdestoweniger gibt es auch eklatante Defizite im Föderalismus deutscher Prägung. Daß dieser aus dem Ruder zu laufen droht, liegt an "zwei deutschen Spezifika", auf die Georg Berndt Oschatz ("Deutschland - Quo vadis?", Dokumentation XXX, Studienzentrum Weikersheim) aufmerksam machte: Das Grundgesetz nehme die Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern nicht nach Sachgebieten vor, sondern nach Staatsfunktionen. Dem Bund falle die Gesetzgebung zu, den Ländern die Verwaltung. Darin unterscheide sich der deutsche Föderalismus zum Beispiel von dem der USA. Über den Bundesrat wirkten die Länder an der Gesetzgebung des Bundes mit.

Da aufgrund der Entwicklung der letzten Jahrzehnte das "absolute Schwergewicht der Gesetzgebung" dem Bund zuwuchs, sei das Regieren in Deutschland gegen den Bundesrat "praktisch nicht mehr möglich". Das Ergebnis dieser "Entscheidungsfindungssituation" sei die "ständige Konstruktion von Halbheiten bei der Lösung von Problemen auf dem Wege der Gesetzgebung". Oschatz wörtlich: "Es müssen in der Bundesrepublik alle Meinungen, alle Bestrebungen, alle Interessen eingebunden werden, wenn sie auch völlig unvereinbar sind und unüberbrückbar gegensätzlich sind." Er schlußfolgert: "Die aufgezeigten Mängel im politischen Entscheidungssystem liegen im Institutionellen, in unserer Verfassungsordnung", und stellt dann klar, daß die handelnden Akteure heute in erster Linie die Parteien in Deutschland seien. Weil die Parteien durch das "völlig media-tisierte Volk kaum ausbremsbar" seien, trügen sie "auch die volle Verantwortung für unser Schicksal".

Was Deutschland braucht, ist nicht die Selbstauflösung in autonome Teilstaaten, wie Ramb in typisch deutscher Konsequenztreiberei meint empfehlen zu müssen, sondern eine Reform in capite et membris, die diesen Namen auch verdient. Dazu gehört eine klare Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Ländern. Dazu gehört weiter, daß unterschiedliche Lebensverhältnisse in den einzelnen Bundesländern zugelassen werden. Mehr Freiheit hier, darin sind sich eine Reihe von Verfassungs-rechtlern einig, schlage letztlich zum Wohl der Bürger aus. Und nicht zu umgehen sein dürfte in der Tat eine Länderneugliederung.

Schließlich bedarf es, nach Jahrzehnten der inneren Selbstgeißelung, wieder eines Nationalgefühles. Dieses steht für ein Gefühl der Verbundenheit und Zusammengehörigkeit und konstituiert erst das, was als "Schicksalsgemeinschaft" bezeichnet werden kann.

Zu Recht weist Oschatz auf die "unglaubliche Substanz" hin, die in unserem Volk steckt: "Trotz zweier verlorener Weltkriege, trotz der seelischen Verheerungen durch den Nationalsozialismus, trotz der 68er Revolte mit ihrem zentralen Angriff auf alles, was uns bis dahin noch zusammenhielt, trotz all der Unzulänglichkeiten unserer Politik und unseres Über-die-Verhältnisse-Lebens, wir haben immer wieder Großartiges geleistet."

Man denke hier nur an den Wiederaufbau nach 1945, der auch deshalb vollbracht werden konnte, weil es immer wieder deutsche Politiker gab, die auch das Risiko des Scheiterns auf sich nahmen. Nicht die Auflösung Deutschlands in Teilstaaten ist deshalb der Weg in die Zukunft, sondern die Besinnung auf die eigenen Kräfte.

 

Michael Wiesberg, Jahrgang 1959, ist Evangelischer Theologe und Publizist und arbeitet als Lektor in einem Verlag.

 

Foto: Berliner Reichstag: "Was Deutschland braucht, ist nicht die Selbstauflösung in autonome Teilstaaten, sondern eine Reform, die diesen Namen auch verdient. Dazu gehört eine klare Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Ländern. Dazu gehört weiter, daß unterschiedliche Lebensverhältnisse in den einzelnen Bundesländern zugelassen werden. Mehr Freiheit hier, darin sind sich eine Reihe von Verfassungsrechtlern einig, schlage letztlich zum Wohl der Bürger aus. Und nicht zu umgehen sein dürfte in der Tat eine Länderneugliederung."


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen