© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/04 26. November 2004

Multikulturelle Gesellschaft
Ein zweiter Mauerfall
Dieter Stein

Laut einer Schlagzeile der Wochenzeitung Die Zeit stehen wir nach dem Mord an dem niederländischen Regisseur Theo van Gogh und den darauf folgenden Ausschreitungen "vor den Trümmern des großen Traums" - des großen Traums von der multikulturellen Gesellschaft.

Allerorten hört man nun Ernüchterndes zur Lage des nach mittlerweile vier Jahrzehnten beschleunigter Einwanderung veränderten Deutschland. Plötzlich werden bislang tabuisierte Probleme beim Namen genannt, die durch wachsende Ghettoisierung insbesondere in den Großstädten entstehen.

Hilflos üben sich nun Politiker aller Parteien in kernigen Forderungen an hier lebende Ausländer, sich gefälligst einzufügen und zu parieren. Otto Schily spricht höhnisch von "Multikulti-Seligkeit", Schröder will einen "Kampf um die Kultur" führen, Merkel meint, wer in Deutschland lebt, solle "ohne Wenn und Aber auf dem Boden des Grundgesetzes stehen". Zeitungen beklagen die "Feigheit der Zivilgesellschaft" (FAZ), der Publizist Henryk M. Broder spricht im ZDF in bezug auf Islam und Christentum von "inkompatiblen Kulturen".

Wer bislang vor der Überforderung unserer Gesellschaften durch zu viel Zuwanderung warnte, erntete prompt den Vorwurf der Fremdenfeindlichkeit. Als CDU und CSU 1999 eine Unterschriftenkampagne gegen die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft zur erleichterten Einbürgerung durchführten, wurde die Union postwendend der Ausländerfeindlichkeit geziehen. Im Zuge des "Aufstandes der Anständigen" im Jahr 2000 ließ die Union sich eine von Friedrich Merz angestoßene Debatte um die Notwendigkeit einer "deutschen Leitkultur" für eine erfolgreiche Integration nach wenigen Tagen widerstandslos entziehen.

Der Punkt, an dem wir stehen, erinnert verdächtig an das Jahr 1989, kurz nach dem Mauerfall. Plötzlich erkannten damals selbst die, die jahrelang gegen die deutsche Einheit argumentiert, ja, vor ihr gewarnt hatten, daß sie nicht mehr aufzuhalten ist - und der Kurs wurde schlagartig geändert. Das System der Teilung stürzte in sich zusammen wie jetzt die multikulturelle Utopie. Noch erschöpfen sich die politischen Forderungen in Leerformeln, versandet die Debatte wieder im Gesundbeten der kritischen Lage. Nach dem Motto: Schön, daß wir darüber geredet haben - aber jetzt machen wir unverändert weiter.

In allen Debatten, die auch das Scheitern der bisherigen Integrationsbemühungen feststellen, fehlt nämlich eine entscheidende Antwort: Wie sieht denn nun eine Konsequenz aus, die den Trend zur Ghettoisierung und den Marsch in Parallelgesellschaften stoppt?

Die Integration wäre ja zu schaffen, sogar Parallelgesellschaften wären schlimmstenfalls auszuhalten, wenn die Dynamik zu bremsen, der Trend gar umzukehren wäre, nämlich daß die Zahl der Migranten nicht permanent zu- und die angestammte Bevölkerung weiter abnähme. Das ist der eigentliche Sprengstoff, der entschärft gehört! 


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