© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/04 26. November 2004

Das Ende des Wohlstands
von Jost Bauch

Jedem, der einigermaßen bewußt die Zeitgeschichte beobachtet hat, war klar, daß sich das Wohlstandsniveau in der Bundesrepublik nicht wird halten lassen. Daß der ökonomische und gesellschaftliche Sinkflug aber so eine Geschwindigkeit annimmt, damit hatten die wenigsten gerechnet. Die sozialen Sicherungssysteme brechen zusammen, die deutsche Wirtschaft wandert massiv ins Ausland ab, "macht dicht" oder wird aufgekauft, Städte und Gemeinden sind völlig überschuldet, das Bildungssystem steht unter Pisa-Schock, die Verkehrs- und sonstige Infrastruktur kollabiert, und die politischen Institutionen verlieren rasant an Glaubwürdigkeit und Rückhalt in der Bevölkerung. Massive Zukunftsängste haben ein Großteil der Bevölkerung erfaßt, Vergleiche mit der Weimarer Republik drängen sich auf. Wenn das so weitergeht, ist eine Pauperisierung breiter Massen zu befürchten nicht nur mit dem Problem von "relativer" sondern handfester "absoluter" Armut.

Viele fragen sich, wie es weitergehen soll: Droht uns ein globalisierter Raub-tierkapitalismus mit Lohndumping auf Ein-Euro-Job-Basis mit einigen wenigen Reichen und der Aktualisierung der Marx'schen Verelendungstheorie? Auf alle Fälle müssen wir uns von dem für die alte Bundesrepublik konstitutiven Konzept einer "nivellierten Mittel-standsgesellschaft", wie die Bundesrepublik nach dem Kriege von Helmut Schelsky bezeichnet worden ist, nachhaltig verabschieden.

Als besonderes Problem stellt sich dabei heraus, daß keine gesellschaftliche Institution oder Person über eine Vision verfügt, wie der Karren wieder flottgemacht werden könnte, der Niedergang dieses Landes erscheint als eherne Gesetzlichkeit. Politiker schwadronieren von einer "Konjunkturkrise" und streuen damit den Menschen Sand in die Augen, so als ob über eine kurzfristige "konjunkturelle Erholung" die Probleme dieses Landes einer Lösung zuzuführen seien.

Bei diesen Politikern aus der 68er Wohlstandsgeneration ist noch gar nicht kognitiv angekommen, daß sich dieses Land eine massive Strukturkrise eingehandelt hat, ihm somit die Ressourcen nicht mehr zur Verfügung stehen, um konjunkturell Anschluß an die Wirtschaftsentwicklung anderer Industriestaaten zu finden, selbst wenn man "gnadenlos" dereguliert und die Löhne dem freien Fall nach unten aussetzt. Der Leistungswille und die Kompetenzen sind weg, um innovative und qualitativ bessere Produkte auf den Weltmarkt zu werfen.

Der Reichtum der alten Wirt-schaftswunderrepublik beruhte im wesentlichen auf einer Innovations- und Qualitätsrente: Deutsche Produkte waren nie billiger als Konkurrenzprodukte, aber sie waren besser oder hatten keine ernstzunehmende Konkurrenz! Diese Zeiten sind heute endgültig vorbei, und die Gesellschaft befindet sich in allen Bereichen im Niedergang. Die Folge: Die sozialen Sitten "verrohen", jeder versucht seine Haut zu retten, Unternehmer versuchen auf die Schnelle abzuzocken, Gewerkschaften verlegen sich auf eine Reformblockadepolitik, Arbeitnehmer mobben, um zu überleben, Verbände verfolgen eine krude Interessenpolitik, es entsteht eine allgemeine Bunkermentalität und "soziale Kälte".

Gibt es angesichts dieser Entwicklung keine Alternativen? Ist die Nor-mativität des Faktischen, die Eindimensionalität des Daseins so weit fortgeschritten, daß wir noch nicht einmal mehr über Gegenentwürfe verfügen, die uns zumindest von einer besseren Gesellschaft träumen lassen? Ist die Illu-sionslosigkeit allgemeines Schicksal, nachdem die großen Utopien einer gerechten Gesellschaft sich mit dem Zusammenbruch des realen Sozialismus als Chimäre erwiesen haben?

Da schimmert ein Lichtlein über den großen Teich aus Amerika und heißt "Kommunitarismus" und die Rede ist von der "guten" und "fairen" Gesellschaft, der "Verantwortungsgesell-schaft". Der amerikanische Soziologe Amitai Etzioni hat dieses Licht entzündet und hat seine Utopie, seine Vorstellung von guter Gesellschaft der amerikanischen Realität entgegengestellt, die ja von unserer Realität so weit nicht entfernt ist. Wir wollen in aller Kürze dieses Konzept an dieser Stelle diskutieren und prüfen, ob es Lösungsansätze für die deutsche Misere enthält, ob es uns Leitlinien an die Hand geben kann, um die Probleme einigermaßen zu bewältigen.

Amitai Etzioni gehört zu den wenigen Soziologen, die sich nicht damit begnügen, die Gesellschaft lediglich beschreiben und erklären zu wollen. Er hat sich zur Aufgabe gemacht, die Defizite der untersuchten Gesellschaft herauszustreichen, um damit die Kriterien für den Entwurf einer "guten" Gesellschaft zu finden. Gesellschaften lassen sich nach Etzioni um die idealtypischen Extrempole "Ordnung" und "Autonomie" einordnen. Es gibt zentralistisch strukturierte Gesellschaften, bei denen das Ordnungsprinzip dominant ist und die Individuen über wenig Freiheitsrechte verfügen. Das kommunistische Sowjetsystem ist für ihn das Paradebeispiel einer solchen überregulierten Gesellschaft.

Auf der anderen Seite gibt es "laissez-faire"-Gesellschaften, die die Autonomie des Subjekts in das Zentrum stellen (so die liberalen Demokratien westlichen Zuschnitts). Beide Extremtypen bekommen langfristig Probleme, die den Zusammenhalt der Gesellschaft gefährden: Die zentralistischen Gesellschaften berücksichtigen zu wenig die Autonomiebestrebungen des Individuums, so daß diese irgendwann das Joch des Zentralismus durch gewaltsame Aktionen abstreifen und sich ihre Frei-heitsrechte erkämpfen (wie in den sozialistischen Gesellschaften), und liberale, nur die Autonomie des Subjekts betonende Gesellschaften stehen vor dem Problem, daß es ihnen nicht gelingt, Ordnung in das "Wimmeln von Willkür" (Hegel) zu bringen, die Gesellschaft findet keinen inneren Zusammenhalt.

Etzioni verdeutlicht diese Extrempole an der Entwicklung der US-amerikanischen Gesellschaft: War sie in den 1950er Jahren noch klar ordnungsorientiert, so trat gegen Ende der Sechziger eine Transformation zugunsten des Autonomieprinzips ein. Es etablierte sich eine individualistische Kultur mit den heute beobachtbaren Folgen einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Desorganisation: Abweichendes Verhalten wird zur Norm, die Kriminalitätsrate steigt, die Ehe verliert an Bedeutung, amerikanische Innenstädte mutieren zu no-go areas, der Drogenkonsum nimmt zu, der Respekt vor Seniorität und Autorität und öffentlichen Ämtern sinkt.

Etzionis Vorstellung von der guten Gesellschaft liegt genau in der Mitte dieser beiden Extrempole: Ordnung und Autonomie sollen sich so verschränken, daß die Ordnung Autonomie zuläßt und andererseits die Autonomie zur Ordnung zurückfindet. Diese Mitte zwischen Ordnung und Autonomie will Etzioni in "gemeinschaftlichen und kommunitären Netzwerken" gefunden haben, möglichst viele gesellschaftliche Aufgaben sollen durch Gemeinschaften geregelt werden.

Etzioni rekurriert dabei auf den deutschen Soziologen Ferdinand Tönnies, der 1926 in seinem berühmten Werk "Gemeinschaft und Gesellschaft" die Differenz zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft in die soziologische Diskussion einführte. Während die Verbindung der Menschen in der Gesellschaft nur über den jeweiligen Rollenausschnitt erfolgt, die die Menschen in ihrer gesellschaftlichen Funktion innehaben (zum Beispiel als Busfahrer oder Ver-waltungsbeamter), sind in Gemeinschaften die Menschen als Ganzes miteinander verbunden, man kennt sich über die Rollenfunktion hinaus und nimmt sich als personale Identität war. In der Diktion von Ferdinand Tönnies: "Alles vertraute, heimliche, ausschließliche Zusammenleben wird als Leben in Gemeinschaft verstanden. Gesellschaft ist die Öffentlichkeit, ist die Welt. In Gemeinschaft mit den Seinen befindet man sich von der Geburt an, mit allem Wohl und Wehe daran gebunden. Man geht in die Gesellschaft wie in die Fremde."

Etzioni will den Prozeß der Entfunk-tionalisierung von Gemeinschaft in modernen Gesellschaften partiell wieder rückgängig machen. Der Gemeinschaft wurden zu viele Aufgaben entzogen, um diese gesellschaftlich zu organisieren: Waren früher Altenbetreuung, Kindererziehung, medizinische Betreuung, soziale Absicherung etc. gemeinschaftliche Aufgaben (der Familie, der Kommune, der Vereine), so werden heute diese Aufgaben auf Systeme "sekundärer Vergesellschaftung" wie Renten-, Kranken-, Pflegeversicherung, das Bildungssystem und andere anonyme Großorganisationen übertragen. Diese Systeme sind heute alle mehr oder weniger am Ende, so daß tatsächlich gemeinschaftliche Unterstützungsleistungen substitutiv einspringen müssen.

Für Etzioni ist die Gemeinschaft die ideale soziale Basis zur Entwicklung einer sozialintegrativen Moral, Gemeinschaft ermöglicht Freiheit und Bindung gleichermaßen, sie ermöglicht Selbstverwirklichung und soziale und moralische Einordnung. Etzioni will auf allen Ebenen die kleinen, gemeinschaftlichen Netzwerke stärken: Die Schule soll wieder ins Dorf, der Dorfpolizist soll wieder aktiviert werden und durch "crime watch"-Nachbarschaften ergänzt werden, die soziale Absicherung soll über kommunitäre Strukturen geregelt sein, öffentliche Dienstleistungen von der Feuerwehr bis zur Straßenreinigung können durch bürgerschaftliche Eigenregie durchgeführt werden. Als Kristallisationspunkte des sozialintegrativen Gemeinschaftslebens gelten nach Etzioni die Familie, die Schule, die lokale Gemeinschaft in der Gemeinde, die Ortskirche, die bürgernahe Polizei usw.

Etzioni exemplifiziert sein kom-munitaristisches Modell unter anderem anhand der Schulpolitik. Bei dem folgenden Zitat aus dem Buch "Die Entdeckung des Gemeinwesens" aus dem Jahre 1993 sollten unseren Bildungspolitikern die Ohren klingeln: "Wenn man die Institutionen mehrerer Gemeinschaften im Namen der Effizienz zusammenlegt, höhlt man die Gemeinschaften oft aus. Nehmen wir beispielsweise die kommunalen Schulen. Sie sind häufig mehr als nur ein Ort, an den die Eltern ihre Kinder schicken. Das Schulhaus und die Sportmannschaften der Schule sind Objekt der Identifikation. Denn in der Schule finden Bürgerversammlungen und Tanz- und Musikveranstaltungen statt, erhalten Opfer von Naturkatastrophen Obdach. Wenn irgendwelche Erbsenzähler aus Spargründen die Schulen mehrerer Gemeinden zusammenlegen, verlieren viele ihre verbindende Institution. Bezieht man den Verlust an Gemeinschaft und die daraus resultierenden sozialen Kosten in die Rechnung mit ein, könnte die Beibehaltung vieler dieser Schulen sehr wohl gerechtfertigt sein".

Gemeinschaftsbildung ist dabei nicht nur in Dörfern und Kleinstädten möglich, auch Metropolen lassen sich nach dem Prinzip der "urban villages" (Herbert Gans) organisieren, wie überhaupt Gemeinschaftsbildung nicht alleine nach dem Territorialprinzip erfolgen soll: Auch Campusgemeinschaften an den Universitäten oder Schulen oder gemeinschaftliche Netzwerke am Arbeitsplatz lassen sich bilden. Die Gesellschaft soll dabei zu einer "Gemeinschaft der Gemeinschaften" werden.

Man muß kein großer Prognostiker sein, wenn man voraussagt, daß alleine durch die Entwicklung des Niedergangs der großen Systeme der sozialen Sicherung sich quasi automatisch eine Revitalisierung der gemeinschaftlichen Orientierung in unserer Gesellschaft einstellen wird. Die Menschen müssen allein schon aus ökonomischen Zwängen heraus näher aneinanderrücken. Kinder werden länger bei ihren Eltern wohnen, weil die Zweitwohnung unfinan-zierbar ist, die Alten werden verstärkt von ihrer Familie versorgt (sofern noch eine vorhanden ist), weil die Abschiebung ins Altenheim von der Pflegeversicherung nicht mehr finanziert werden kann. Öffentliche Aufgaben werden kommunal im ehrenamtlichen Engagement wahrgenommen oder bleiben unerledigt, die Not zwingt zum Zusammenrücken. Insofern ist die von Etzioni beschriebene Vergemeinschaftung öffentlicher Aufgaben nicht nur eine wünschenswerte Entwicklung für ein intaktes Gemeinwesen, sie ist auch aus der Not geboren. Die Gesellschaft als ein sich selbst regulierendes System wird sich von alleine auf diese neue Entwicklung einstellen. Gut wäre es natürlich, wenn der Prozeß der Vergemein-schaftung öffentlicher Aufgaben von der Politik unterstützt würde. Doch da ist wenig zu erwarten, solange die "Urzelle" der Gemeinschaft, die Familie, nicht genügend unterstützt wird.

Sicherlich bietet Etzionis Ansatz der Refunktionalisierung der Gemeinschaft viele überlegenswerte Gesichtspunkte über den Tag hinaus gerade für eine Reform der sozialen Sicherung in unserem Lande. Aber diese Lösungsansätze können nur ein Mosaikstein sein, zumal er über ein Revirement der großen sozialen Funktionssysteme wie Wirtschaft und Politik kaum Aussagen macht.

Auf die Probleme einer globalisierten Weltökonomie nur mit der Bildung kleiner sozialer Netze reagieren zu wollen, erscheint doch zu kurz gedacht. Gesellschaft alleine als "Gemeinschaft von Gemeinschaften" zu denken, kommt einem neuen "Tribalismus" gleich als Aggregation von Clans und Sippschaften, es sei denn, wir fallen wirklich zurück in die Vormoderne, in eine segmentär differenzierte Stam-mesgesellschaft. Neben einer neuen Justierung von Gemeinschaft und Gesellschaft insbesondere im Bereich der sozialen Sicherung brauchen wir auch Reformen in den großen sozialen Systemen wie Ökonomie, Wissenschaft und Politik. Ohne eine global konkurrenzfähige Ökonomie und ohne eine Politik, die wieder verstärkt die Interessen der hiesigen Bevölkerung zusammen mit unseren europäischen Nachbarstaaten vertritt, wird ein Ende der Krise nicht zu haben sein. Da hilft auch Amitai Etzionis Entwurf von einer guten Gesellschaft nicht weiter.

 

Prof.  Dr. Jost Bauch lehrt Soziologie an der Universität Konstanz. In der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über die "Epoche der Ent-politisierung" (JF 38/04).

 

Foto: Szene aus dem Film "Die fetten Jahre sind vorbei": "Ist die Normativität des Faktischen, die Eindimensionalität des Daseins so weit fortgeschritten, daß wir noch nicht einmal mehr über Gegenentwürfe verfügen, die uns zumindest von einer besseren Gesellschaft träumen lassen? Ist die Illu-sionslosigkeit allgemeines Schicksal, nachdem die großen Utopien einer gerechten Gesellschaft sich mit dem Zusammenbruch des realen Sozialismus als Chimäre erwiesen haben?"


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