© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/04 10. Dezember 2004

"Fünf Millionen Einwanderer"
Der Wirtschaftswissenschaftler Paul Welfens über den längst beschlossenen EU-Beitritt der Türkei und die Folgen
Moritz Schwarz

Herr Professor Welfens, am 17. Dezember entscheidet der Europäische Rat über die Aufnahme von "ergebnisoffenen" Beitrittsverhandlungen mit der Türkei.

Welfens: Die seltsame Wortschöpfung "ergebnisoffen" ist eine Leerformel. Tatsächlich versucht die Politik den Entscheidungsprozeß so zu präparieren, daß ein "Nein" später gar nicht mehr möglich ist.

In einem Beitrag für die "Neue Zürcher Zeitung" bezeichnen Sie den Türkei-Beitritt als "abgehobenes Projekt elitärer Politiker".

Welfens: Diese Formulierung ergibt sich zwangsläufig aus dem großen Kontrast, in dem dieses Projekt einer Reihe führender Politiker zur Meinung der Mehrheit der Bürger in Deutschland und Europa steht.

Allerdings hat dieser doch beim Euro auch niemanden gestört.

Welfens: Erstens ging es beim Euro lediglich um eine währungspolitische Frage, zweitens sollte hier das deutsche Modell Bundesbank auf die europäische Ebene übertragen werden. Im Gegensatz zur EU-Mitgliedschaft der Türkei diente dies der Wahrung der deutschen Interessen. Beim Euro gab es Pro und Contra, es wurde offen diskutiert.

Aber die Entmündigung der Bürger, die zum Beispiel Kritiker wie der Politologe Arnulf Baring oder der Staatsrechtler Hans-Herbert von Arnim immer wieder beklagen, ist die gleiche.

Welfens: Das ist natürlich richtig, denn die Leute haben den Euro mehrheitlich offenbar nicht gewollt.

Also brauchen wir Volksabstimmungen?

Welfens: Bislang versuchen Politiker, in dieser Frage vor der Demokratie wegzulaufen. Eine Volksabstimmung wäre daher das richtige Mittel, am besten eine auf europäischer Ebene; gerne auch per Internet.

Warum kommt diese Volksabstimmung nicht?

Welfens: Aus dem gleichen Grund, aus dem es auch keine offene Debatte zu dem Thema gibt. Weil diese im Grunde als politisch nicht korrekt gilt und man das Thema zu tabuisieren versucht. Das aber ist einer Demokratie mit Grundgesetz nicht würdig.

Immerhin bezeichnet Bundeskanzler Schröder einen Beitritt der Türkei als "im deutschen Interesse" gelegen.

Welfens: Dann soll er dieses Interesse einmal definieren! Außer philosophischen Erwägungen folgt da nichts. Ein Interesse aber kann man konkret benennen: Also, bitte!

Zum Beispiel, die Türkei außenpolitisch an uns zu binden.

Welfens: Wenn man der Türkei in den 1960er Jahren eine Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft angeboten hat, so geschah das auf der Basis einer Perspektive für eine Zollunion. Seit 1996 besteht diese, das historische Versprechen ist also erfüllt! Wir können die Türkei zusätzlich auch noch in den Binnenmarkt beziehungsweise den Europäischen Wirtschaftsraum aufnehmen - eine Vollmitgliedschaft ist dazu aber nicht nötig. Diese Maßnahmen reichen aus, um das Land politisch eng an uns zu binden. Im übrigen glaube ich, daß das Problem der Expansion des Islamismus primär anderswo liegt, nämlich in Saudi-Arabien. Von den 350 Milliarden Dollar Einnahmen für die Opec in diesem Jahr geht ein Drittel an die Saudis. Aus diesem Monopolgewinn wird ein Gutteil in die Töpfe von Islamisten in aller Welt fließen. An das Thema Monopolmacht der Opec und islamistischer Einfluß der Saudis traut sich aber aus verschiedenen Gründen kaum jemand heran. Politischer Vereinfachung folgend ist es offenbar bequemer, mit einem EU-Beitritt der Türkei den Islamismus zu "bekämpfen". Hier ist viel Wunschdenken im Spiel.

Im Mai 2003 sind zehn osteuropäische Länder mit zusammen 75 Millionen Einwohnern der EU beigetreten. Warum sollten wir nicht weitere 71 Millionen Türken verkraften können?

Welfens: Mit so einer Sicht fällt man auf die Masche des EU-Erweiterungskommissars Verheugen herein, den Türkei-Beitritt lediglich als eine Art "zweite Osterweiterung" darzustellen. Das halte ich schlicht für eine Täuschung, denn in ökonomischer, kultureller und vor allem demographischer Hinsicht unterscheidet sich die Türkei ganz erheblich von den osteuropäischen Staaten. Während zum Beispiel dort die Bevölkerungszahl stagniert, steigt sie in der Türkei jährlich um eine Million. Das bedeutet, bis 2020 hat das Land etwa 90 Millionen Einwohner, bis 2050 gar 120 Millionen.

Bleibt denn die hohe Natalität der Türken zwangsläufig erhalten? Immerhin sinkt diese in der Regel mit steigendem Wohlstand, den die EU-Mitgliedschaft schließlich bewirken soll.

Welfens: In der Tat steigt die Bevölkerungszahl der Türkei schon heute langsamer als noch vor zwanzig Jahren. Dennoch werden die Türken und Kurden weiterhin einen starken Zuwachs haben. Das zeigen seriöse Daten der Uno.

Warum kommt es aber zwangsläufig zu einer Abwanderung nach Europa, wie Sie vorhersagen? Könnte der sich durch den Beitritt hebende Lebenstandard nicht wenigstens das verhindern?

Welfens: Das Pro-Kopf-Einkommen in der Türkei liegt im Vergleich zum EU-15-Durchschnitt bei nur 22 Prozent. Zum Vergleich: Bei den neuen osteuropäischen Mitgliedern sind es im Schnitt 45 Prozent. Die Türkei kann niemals so schnell wachsen, daß eine Emigrationswelle ausbleibt.

Reicht denn nicht wenigstens ein gewisses Wachstum - als Signal einer Zukunft mit Perspektive im eigenen Land -, um die Leute von der Auswanderung abzuhalten?

Welfens: Nach EU-Erfahrungen - etwa bei der Süderweiterung - eindeutig nein. Denkbar ist in Neumitgliedsländern im übrigen auch - wie Osteuropa zeigt - ein jobless growth, also ein Wachstum ohne Entstehung neuer Arbeitsplätze. Arbeitslose und viele junge Menschen wandern dann aus.

Das heißt, Sie erwarten bereits ab 2011, nach Ablauf der siebenjährigen Freizügigkeitsbeschränkung, eine erhebliche Zuwanderung - nämlich aus Osteuropa?

Welfens: Ich rechne ab 2011 für Deutschland mit bis drei bis vier Millionen Einwanderern aus Osteuropa binnen dreißig Jahren. Aus der Türkei wären für Deutschland noch einmal etwa fünf Millionen zu erwarten, 12 Millionen für ganz Europa.

Heute haben wir gut sieben Millionen Ausländer in Deutschland, das wäre also eine Verdoppelung der heutigen Zahl.

Welfens: Vergessen Sie nicht, daß die deutsche Bevölkerung schrumpft. Alles in allem läuft es darauf hinaus, daß wir in naher Zukunft einen Anteil von etwa zehn Prozent Türken - plus sonstige Ausländer - in Deutschland haben werden. Die Frage ist, ob wir eine solche Gesellschaft wollen und wie integrationsfähig das Land ist. Wenn ich mir die Integrationsdebatte der letzten Wochen anschaue, dann bezweifle ich, daß die Mehrheit bei uns das will. Wir klagen heute schon über Ghettoisierung und mangelnde Integration. Diese Probleme werden dann aber künftig nicht ab-, sondern zunehmen. Viele unserer Schulen und Gemeinden sind heute schon mit der Integration überfordert, wie soll das erst werden, wenn die Zuwanderungszahlen so dramatisch ansteigen. Und zudem wird die zunehmende soziale Ghettoisierung einer immer größer werdenden Zahl von Türken in deren verstärkter Hinwendung zur eigenen Kultur - in vielen Fällen inklusive radikalem Islam - münden.

Wie wird sich denn zunächst die Einwanderung der Osteuropäer ab 2011 auswirken?

Welfens: Da nicht nur gutausgebildete Arbeitnehmer kommen werden, sondern auch viele Ungelernte, bin ich angesichts von schon jetzt 24 Prozent Arbeitslosigkeit unter den Geringqualifizierten in Deutschland nachdenklich. Natürlich können wir viele der Einwanderer auch gut brauchen, aber die Dimension und die Dynamik von Einwanderung gilt es sorgfältig zu bedenken. Die Einwanderung aus Osteuropa und die Verlagerung deutscher Unternehmen in osteuropäische Niedriglohnländer wird die Arbeitslosenquote der Geringqualifizierten ansteigen lassen. Von daher dürfte gerade die ohnehin überdurchschnittlich hohe Arbeitslosenquote türkischer Arbeitnehmer beziehungsweise Männer weiter ansteigen. Ich befürchte, daß der dadurch entstehende Frust ebenfalls dazu beitragen wird, sie für eine politische und religiöse Radikalisierung besonders empfänglich zu machen. Wenn dann in diese verschärfte Situation mit der Zeit noch weitere fünf Million Türken einwandern, dürften in Deutschland - bei heute schon über vier Millionen Arbeitslosen - verschärfte politische und soziale Spannungen auftreten. In den Kopenhagen-Kriterien zur Erweiterung wird ja auch eine Aufnahmefähigkeit der EU bei Erweiterungen verlangt, Deutschland mit seiner dreißigjährigen Massenarbeitslosigkeit ist mit Blick auf die Türkei nicht erweiterungsfähig.

Wie wird sich ein Türkei-Beitritt auf das System der EU-Wirtschaftsförderung auswirken?

Welfens: Das System wird sich fundamental verändern, etwa ein Drittel der Gelder wird dann künftig in die Türkei fließen. Nach Berechnungen der Europäischen Kommission wird man in Brüssel mit EU-Ausgaben von nur einem Prozent des Bruttoinlandsproduktes der EU nicht mehr auskommen - sprich, es wäre eine Aufstockung der Mittel notwendig. Konkret heißt das, daß neben den Niederlanden vor allem die Bundesrepublik Deutschland als Hauptnettozahler entsprechend gefordert wäre. Da die Nettobeitragszahlungen aber gemäß Wunsch von Hans Eichel künftig aus dem EU-Stabilitäts- und Wachstumspakt herausgerechnet werden sollen, läuft alles auf folgende versteckte Gleichung hinaus: Je mehr wir netto einzahlen, desto größer wird die Defizitquote. Wenn es eine Prachtstraße auf dem Weg in den Schuldenstaat gibt, dann müssen wir hier einbiegen.

Sie stellen die erstaunliche These auf, die EU-Mitgliedschaft der Türkei wird zum EU-Austritt Deutschlands führen.

Welfens: Das ist längerfristig plausibel. Auf jeden Fall aber werden von der Wanderungsbewegung nach einem Beitritt der Türkei - beziehungsweise nach dem Ende einer Übergangsfrist für die Freizügigkeit - zwei Gruppen profitieren: die Einwanderer und ganz massiv rechtsradikale Parteien. Der Unmut wird durch die Probleme derart zunehmen, daß alles, was wir bis heute an "rechten" Wahlerfolgen kennen, uns dann als völlig harmlos erscheinen wird. Wenn gleichzeitig, infolge der Reformen - Stichwort Anti-Hartz-proteste - auch extreme Linksparteien verstärkten Zulauf bekommen, dann kann ich nur sagen: Weimar läßt grüßen! Deshalb halte ich es nicht für unmöglich, daß die Wut schließlich in eine breite "Los von Brüssel"-Stimmung mündet. Sechzig Jahre europäische Integration wären dann verspielt!

Warum betreibt die Bundesregierung dennoch den Beitritt der Türkei?

Welfens: Salopp gesagt: Viele Politiker träumen von mehr Land, mehr Untertanen, mehr Steuerzahlern, mehr Macht und Bedeutung, auch wenn viele in der zweiten Reihe daran erinnern, wie unverantwortlich diese Politik ist. Die Quittung für die Illusionspolitik bekommen dann spätere Generationen. Wir brauchen eine durchdachte nachhaltige Integration in Europa.

Für wie glaubwürdig halten Sie die CDU in dieser Frage?

Welfens: Ich halte die Union durchaus für glaubwürdig. Und ich empfehle, das kommunale Wahlrecht für Ausländer aus Nicht-EU-Ländern einzuführen, um den radikalen Islamisten das Wasser abzugraben.

2006 sind Bundestagswahlen. Ist die Union vielleicht nur aus wahltaktischen Gründen gegen den Türkei-Beitritt?

Welfens: Das glaube ich nicht.

Die Idee der Beitrittsbefürworter ist die Vision einer immer weiter um sich greifenden Integration für den Weltfrieden. Welche Vision wollen Sie dagegen setzen?

Welfens: Die Idee eines stabilen und weltoffenen Europas.

Welfens: "Ihr" Europa wird an Überdehnung scheitern, es kann nicht stabil sein. Stabilität ist Voraussetzung für Weltoffenheit.

In der Union sprechen einige von Europa als christlichem Abendland statt der Keimzelle der "One World"-Idee.

Welfens: Zwar träumt schon so mancher Islamist vom Kalifat Europa, aber darauf sollten wir mit einem neuen Prinzip reziproker Toleranz reagieren. Das heißt, wir sollen gleichwertige Toleranz verlangen - wer die Werte des Grundgesetzes nicht akzeptieren kann, wird sich schwertun in unserer offenen Gesellschaft. Aufgeladene Schlagworte wie das vom "christlichen Abendland" helfen uns dagegen nicht weiter.

 

Prof. Dr. Paul J.J. Welfens ist Präsident des Instituts für Internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Bergischen Universität Wuppertal. Zuvor lehrte er in Münster und Potsdam. Geboren wurde er 1957 in Düren.

 

Foto: Türkischer Ministerpräsident Erdogan, Bundeskanzler Schröder: "Ergebnisoffene Beitrittsverhandlungen? - Tatsächlich versucht die Politik den Entscheidungsprozeß so zu präparieren, daß ein 'Nein' später gar nicht mehr möglich ist"


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