© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/04 10. Dezember 2004

Der freie Markt als Drachentöter
von Roland Baader

John Maynard Keynes, besser bekannt als Lord Keynes, hat in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts das Denken der Ökonomen revolutioniert (hauptsächlich mit seinem Buch "Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes" von 1936), aber leider in die völlig falsche Richtung. Nicht nur die Ökonomen haben seine Lehren begierig aufgenommen, weil er ihnen die Anscheinspotenz verliehen hat, Konjunktur, Beschäftigung und Wirtschaftswachstum "machen" zu können. Noch freudiger haben sich die Politiker auf Keynes' Thesen gestürzt, gaben sie doch ihren unsäglichen Wirtschafts- und Gesellschaftsklempnereien eine scheinbar "wissenschaftliche" Legitimität. Ebenso ihrer Abzocker- und Ausgabenwut, denn Keynes lehrte, der Staat müsse bei jeder konjunkturellen Schwäche und bei zunehmender Arbeitslosigkeit als Nachfrager einspringen - und zwar nötigenfalls auch mit sinnlosen Ausgaben, zum Beispiel mit Aufträgen für den Bau von Straßen, die nicht benötigt werden, oder mit Lohnaufträgen für das Ausheben von Gräben, die man anschließend wieder zuschütten läßt.

"Faul" an seinen Theorien ist jedoch nicht nur die "schlechte Nachfrage" (Kauf unproduktiver Leistungen durch den Staat), die er empfiehlt. Die ganze Nachfragetheorie der Beschäftigung und des Wachstums, die durch Keynes weltweite Popularität erlangt hat, ist generell falsch. Keynes' Denken und die von ihm angeregte keynesianische Politik beruht auf dem Irrtum, der eigentliche Motor des Wirtschaftswachstums sei die Nachfrage, besonders die Nachfrage nach Konsumgütern. Unausgesprochen steckt hinter dieser Sicht zugleich die Theorie, Sparen sei unwichtig oder gar kontraproduktiv für die Gesundheit einer Volkswirtschaft. Nichts aber könnte falscher sein als das.

Das genaue Gegenteil ist zutreffend: Nachfrage ist das Ergebnis des Wirtschaftswachstums. Erst muß produziert werden, bevor konsumiert werden kann. Das hatte der französische Ökonom Jean Baptiste Say schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts des langen und breiten ausgeführt, indem er analytisch scharfsinnig zeigte, daß sich (grob gesprochen) die Produktion (das Angebot) ihre eigene Nachfrage schafft. In dieser Aussage steckt die eigentlich simple Erkenntnis, daß Kaufkraft aus der Pro-duktionstätigkeit erwächst. So wie die einzelne Person oder der einzelne Haushalt keine Güter kaufen können, wenn sie nicht vorher Einkommen aus produktiver Tätigkeit erworben haben, so können auch gesamtwirtschaftlich die Güter nicht konsumiert (nachgefragt) werden, wenn sie nicht zuvor produziert worden sind. Die Triebkraft der Marktwirtschaft ist das Angebot, nicht die Nachfrage (der Konsum).

Die "Nachfragetheorie des Wohlstands" - oder der "konsumgesteuerte Weg zum Wohlstand" - ist eine betrügerische Lehre. Man kann sich nicht in den Wohlstand konsumieren, weder als Einzelperson noch als Familie, noch als Nation. Wer reich werden will (auch als Land oder Volkswirtschaft), muß sparen, arbeiten, investieren, lernen und sich diszipliniert verhalten. Wenn der Konsum ein Weg zum Reichtum wäre, gäbe es nur noch reiche Leute und Staaten. Heute erklimmt der Konsum - als Anteil am Sozialprodukt - immer neue Höhen (in den USA 70 Prozent des BIP). Und je höher diese Ziffer steigt, desto gründlicher ruinieren sich die betreffenden Völker, desto schlimmer wird später ihr wirtschaftlicher (und damit auch ihr kultureller, gesellschaftlicher und machtpolitischer) Absturz.

"Says Gesetz" besagt im Umkehrschluß, daß derjenige, der nichts produziert, auch nichts nachfragen kann, weil er kein Einkommen erzielt. Wer nichts produziert, kann nur nachfragen, wenn er vorher oder zugleich raubt oder stiehlt oder bettelt. Für Keynes besteht die Lösung einer zu niedrigen Nachfrage (niedriger als das Angebot) darin, den Leuten neugedrucktes Geld zu geben, damit sie mehr ausgeben können. Und das ist Diebstahl.

Wenn Staat und Zentralbank dem vorhandenen Geldstock neues Geld hinzufügen, das nicht aus produktiver Leistung stammt und deshalb auf ein nicht-vergrößertes Güter- und Lei-stungsvolumen stößt, dann werden mit diesem "neuen Geld" - und den von ihm ausgelösten Preissteigerungen - all jene betrogen, die ihr Geld (ihre Kaufkraft) durch Produktion und Dienstleistung erworben haben; die Kaufkraft ihres Geldes wird verringert - sogar dann, wenn die Preise "stabil" bleiben sollten, denn in diesem Fall wären die Preise ohne neues Geld gesunken und hätten die Kaufkraft des "Leistungsgeldes" erhöht.

Hinter der wahren Triebkraft der Marktwirtschaft (dem Angebot) steckt eine weitere Antriebsenergie, nämlich das Sparen. Wenn Menschen und Haushalte beschließen, mehr zu sparen, wird damit das Reservoir an Investitionskapital vergrößert. Das wiederum läßt die Zinsen auf natürliche Weise sinken, so daß eine größere Zahl an Investitionen rentabel wird. Das Wirtschaftswachstum - und damit auch die Beschäftigung - hängt davon ab, wieviel gespart wird und wie geschickt das Ersparte investiert wird. Sparen und Investieren erhöht die Pro-Kopf-Quote des investierten Kapitals, und das damit verbundene Produktivitätswachstum führt zu höheren Reallöhnen - also zur Vermehrung des Wohlstands. Konsumausgaben hingegen sind zwar notwendig, damit die produzierten Güter auch abgesetzt werden, verringern aber die Kapitalmenge, die für Investitionen bereitsteht.

Eine Politik der künstlichen Zinssenkung zur Anregung des Konsums ist also wohlstandsmindernd, weil die manipulativ unter den natürlichen Zins gesenkten Zinssätze die Sparanreize verringern und den Investoren falsche Signale geben. Vermehrte Staatsausgaben und vermehrte Gelderzeugung des Staates können kein stabiles langfristiges Wachstum generieren, weil damit weder neues Kapital noch neue (reale) Ersparnisse erzeugt werden. In den trefflichen Worten des Ökonomen Christopher Lingle gesagt: "Wenn Zentralbanken die Zinssätze nach unten drücken, um mehr Geld in die Volkswirtschaft zu pumpen, oder wenn Regierungen ihre Haushaltsdefizite erhöhen, werden Mittel von den Reich-tumserzeugern zu den Reichtumsver-brauchern umgelenkt."

Spätestens die bösen Folgen der Nachfragepolitik in Japan sollten den Ökonomen (wenigstens denen!) die Augen geöffnet haben. 13 Jahre Nachfragepolitik mit astronomischen Staatsausgaben haben das Land ruiniert. Die Staatsverschuldung hat sich verdreifacht, die Börse ist zerfallen, die Banken sind marode, die Währung ist inflationiert, und die Nation mit den fleißigsten und sparsamsten (und ehemals reichsten) Bürgern der Welt steuert dem Staatsbankrott entgegen. Der Musterpatient der keynesianischen Doktorei liegt auf der Intensivstation. Aber nicht genug des Desasters: Jetzt schlägt auch noch die Stunde der an Keynes geschulten Leichenfledderer. Dieselben akademischen Klempner, die bisher bei jeder Konjunkturdelle eine "makroökonomische Gegensteuerung" empfohlen haben - sprich: noch mehr Geld, noch höhere Staatsausgaben und noch niedrigere Zinsen -, stehen jetzt vor dem Koma-Patienten und diagnostizieren die Notwendigkeit einer Hochfieber-Therapie, also einer massiven Inflationierung.

Die betreffenden Ökonomen wissen genau, was sie damit erreichen wollen: Obwohl eine Senkung der Zinsen unter Null praktisch ausgeschlossen ist, weil es dann jedermann vorziehen würde, sein Geld zu horten, statt es zu Minuszinsen zu verleihen, bietet sich eine Lösung an: Mit der Beschleunigung der Inflation kann man dieser Falle entkommen, jedenfalls eine Weile lang. Inflation - vor allem Inflation bei künstlich niedrig geknüppelten Zinsen, in denen kein Inflationsausgleich enthalten sein kann - bedeutet Zwangs-Entsparen, Auflösung der Ersparnisse der Bevölkerung gegen deren Willen. Die Staatsschulden sollen mit entwertetem Geld - mit dem den Sparern und Geldvermögensbesitzern per Inflation entrissenen Eigentum (also durch heimliche Enteignung) - bezahlt werden.

Auch das ist ein keynesianischer Theoriebestandteil: Keynes hat ausgeführt, daß in einer Rezession oder Depression die Löhne eigentlich sinken müßten, damit am Markt wieder Vollbeschäftigung einkehrt. Weil dem aber der politische Wille und die Gewerk-schaftsmacht entgegenstehen, muß die Politik zu einem Trick greifen: Wenn die Inflation schneller steigt, als die Arbeiter erwartet haben, und sie somit mit ihren Lohnforderungen nicht im gleichen Tempo nachziehen, dann sinken zwar nicht die Nominallöhne, aber die Reallöhne - und nur darauf kommt es letztlich mit Blick auf die Beschäftigung an.

Weil Keynes wußte (oder wenigstens ahnte), daß solche perversen Rezepte nur kurzfristig wirken können und längerfristig in den Ruin führen, hat er seiner Makroklempner-Fibel den tröstenden Satz beigefügt: "Langfristig sind wir alle tot". Keynes war keineswegs so einfältig, zu übersehen, daß jeder Generation eine neue folgt, die das Desaster ausbaden muß, aber es war ihm egal. Sein Zynismus wird nur noch übertroffen von der Blindheit seiner gläubigen Nachfahren auf den Lehrstühlen, die es nach fünfzig Jahren keynesianischen Siechtums der Märkte endlich besser wissen und für ein Ende des makabren Spuks plädieren sollten.

Wie der Marxismus und der Sozialismus, so scheint auch der Keynesianis-mus eine unheilbare Erkrankung zu sein, weil er (wie jene) den Charakter einer Quasireligion angenommen hat.

Dabei weiß jeder politisch Verantwortliche - oder sollte es wissen -, daß die uferlos steigende Staatsverschuldung und die permanente Inflationierung der Währung irgendwann im finanziellen Ruin des betreffenden Landes enden muß, in Staatsbankrott und Währungsreform. Aber die Gewißheit, daß sich diese Ereignisse um zwei oder drei Generationen hinauszögern lassen, genügt der politischen Kaste als Motiv, das makabre Spiel bedenkenlos weiterzubetreiben.

Es war und ist die Prädisposition des homo politicus für eine keynesianische Politik, die Keynes und seine Lehren so berühmt und so beliebt gemacht haben. So wie der Marxismus trotz seiner grandiosen Irrtümer überaus erfolgreich bei der Eroberung der Geister war, weil er die psychische und geistige Befindlichkeit der Intellektuellen punktgenau getroffen hat, so war und ist auch der Keynesianismus - trotz seiner schweren Irrtümer - so erfolgreich bei der Eroberung der politischen Eliten, weil er deren zirzensische Macht-befindlichkeiten so zielgenau getroffen hat.

Freilich sind die Bürger nicht ganz unschuldig am traurigen Geschehen. Der Kniff, während des eigenen Lebens öffentliche und soziale Leistungen einheimsen zu können, die wahrscheinlich erst von nachfolgenden Generationen zu bezahlten sind, hat auch für Otto Normalbürger einen unwiderstehlichen Reiz.

Um so verwerflicher ist bei diesem Zug der Lemminge die aufmunternde Begleitmusik der Ökonomen. Mit der euphorischen Adaption der Keynes'-schen Lehren hat sich die Ökonomie zum willfährigen Lakaien der Politik gemacht. Auf den Lehrstühlen der volkswirtschaftlichen Fakultäten werden nicht mehr die unumstößlichen Gesetze der Ökonomie gelehrt, sondern es werden Machbarkeitswahn und Len-kungsarroganz der politisch Mächtigen in mathematische Formeln und ökono-metrische Kochrezepte gegossen. Die Politik schmückt sich mit "Sachver-ständigenräten", und diese Wissenschaftler üben zwar Detailkritik an Sei-tenausflügen der Regierenden, aber keine Generalkritik an deren Hauptmarschroute in die Knechtschaft und Verarmung der Völker.

Henry Hazlitt, einer der großen modernen Denker der Österreichischen Schule in den USA der Nachkriegszeit, hat den Ökonomen in den fünfziger Jahren zornig entgegengeschleudert: "Heutzutage werden diejenigen Ökonomen als brillant angesehen, die sich gegen die Ersparnisbildung aussprechen und statt dessen der Verschwendung das Wort reden. Und wenn jemand auf die langfristigen Konsequenzen einer solchen Politik aufmerksam macht, geben sie sarkastisch zurück: 'Langfristig sind wir alle tot'. Und das wird dann auch noch als Weisheit gefeiert." Hazlitt würde gegenüber den heutigen Ökonomen noch weit gröbere Worte finden. Die Mächtigen der Welt lieben die falschen Ideen, mit denen sie ihre Opfer gängeln und ausbeuten können; und die Bürger lieben die falschen Ideen, weil sie ihnen wie unmündigen Kindern väterlichen Schutz und Sicherheit vorgaukeln. Und die Ökonomen lieben die falschen Ideen offensichtlich ebenfalls, weil es sich mit ihnen im Windschatten der Macht und unter den vollen Segeln des Zeitgeistes ganz reputierlich leben läßt. Offensichtlich haben sie sich den Satz ihres berühmten Kollegen John Kenneth Galbraith zum Leitmotiv gemacht: "Man ist immer viel, viel besser dran, wenn man mit der Mehrheit irrt, statt allein recht zu behalten."

Was die sogenannten Wissenschaftlichen Beiräte bei der Bundesregierung anbetrifft, sollte man wissen, daß die Besetzung politisch "sanft" gesteuert wird. Man achtet darauf, gegensätzliche Denkschulen einzubinden, so daß die zur Erstellung von Gutachten notwendige "Konsenssuche" von vornherein scharfe Kritik ausschließt. Es ist nicht nur der sogenannte "lange Arm der Politik", der bei dem mitmischt, was Wissenschaftler sagen dürfen; der Krake Politik hantiert mit tausend Fangarmen.

Im Feudalismus, im Zeitalter der Könige und Kaiser, der Fürsten und Ritter, war der Mythos vom Gottesgna-dentum der Herrscher beim Volk lebendig. Man glaubte an eine überirdische Weisheit und übersinnliche Kräfte der gekrönten Häupter und an die sagenumwobenen Heldentaten ihrer Getreuen. Bei den modernen Führungsschichten der Massendemokratie sehen wir uns einem ähnlichen Mythos zur (Schein-) Legitimierung der Herrschaft gegenüber, dem Mythos von der Fähigkeit der Gewählten zur "makroökonomischen Stabilisierungspolitik" und zur Verwirklichung der "sozialen Gerechtigkeit". Man könnte ihn den modernen Drachentöter-Mythos nennen: So wie den früheren Feudalherren meist übermenschliche Kräfte im Kampf gegen Feinde und gegen die Mächte des Bösen zugeschrieben wurden, so ordnet das gläubige Volk heute den politischen Eliten die Macht zur gesamtwirtschaftlichen Stabilisierungspolitik zu: die Fähigkeit, die Drachen Rezession, Depression, Arbeitslosigkeit und Deflation besiegen und töten zu können.

Die Wahrheit ist: Politik gebiert all diese Drachen; sie besiegt sie niemals, denn sie ist die Mutter aller Drachen. Der einzige Ritter, der sie besiegen könnte, wäre der freie Markt (so man ihn denn wirken ließe) mit echtem Geld - so man es den freien Markt denn schaffen ließe.

 

Roland Baader ist Nationalökonom, Sozialphilosoph und Autor zahlreicher Bücher und Aufsätze. Bei dem hier veröffentlichten Text handelt es sich um einen leicht veränderten Auszug aus seinem kürzlich erschienenen Buch "Geld, Gold und Gottspieler" (Resch-Verlag).


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