© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/53 04 17./24. Dezember 2004

Westverschiebung mit Londons Gnaden
Vor sechzig Jahren wurde die alte Forderung der polnischen Exil-Regierung nach der Oder-Neiße-Linie offiziell zur britischen Politik
Stefan Scheil

Die Suche dauerte Jahre und gestaltete sich schwierig. Im Frühjahr 1944 hatte sie noch immer kein Ende gefunden. Die Dominien des Empire lehnten die Londoner Pläne ebenso ab, wie es die lateinamerikanischen Staaten taten. Außerdem legten gegen diesen letzten Vorschlag die USA ihr Veto ein. Da kam Sir Orme Sargent scheinbar eine rettende Idee. Es müsse doch wohl möglich sein, so überlegte sich der zweithöchste Beamte des britischen Außenministeriums, die deutsche Bevölkerung Ostpreußens und Schlesiens in Sibirien unterzubringen.

Was heute wie makabre Satire wirkt, wurde dann in der Tat die gültige Beschlußlage des interministeriellen Ausschusses für den "Transfer deutscher Bevölkerungsteile", der in London eigens zu diesem Zweck gebildet worden war. Im Juni 1944 abgeschlossen, umfaßte der begründende Bericht fünfzig Druckseiten. Es war nicht vergessen worden, Zwangsarbeit der Deportierten vorzusehen, während die Regierung Seiner Majestät mit den genauen Modalitäten der Vertreibung formal nicht belastet werden wollte.

Auch wurde nicht festgelegt, wie Stalin das Projekt schmackhaft gemacht werden sollte. Man setzte auf die Brutalität der Roten Armee und des Sowjetsystems, die die Dinge schon richten würden. Das Ganze werde nur machbar sein, wenn man den Sowjets freie Hand ließe, erläuterte Sargent. Sie würden skrupellos vorgehen und sich an keinerlei Regeln oder Abmachungen halten. Außerdem sei das Problem dann quasi einer Endlösung zugeführt, setzte er dazu. In Sibirien wären die Deutschen ein für allemal "vergessen", statt in einem übervölkerten Restdeutschland vielleicht für unerwünschte politische Unruhe sorgen zu können.

Für Ostpreußen und Schlesien hatte es frühzeitig keine Hoffnung mehr gegeben. Was immer der zweite Weltkrieg sonst noch war, für die östlichsten Teile Deutschland tendierte er von Beginn seiner Entstehungsphase in Richtung Vernichtungskrieg. Man "hofft jetzt im stillen in Warschau nicht nur auf die bedingungslose Integration Danzigs in den polnischen Staatsbereich, sondern auf viel mehr, auf ganz Ostpreußen, auf Schlesien, ja auf Pommern", berichtete Völkerbundkommissar Carl J. Burckhardt bereits im Sommer 1938 nach einem Gespräch mit dem polnischen Außenminister Jozef Beck. Diese Ziele zogen sich durch die europäische Politik bis hin zum Kriegsausbruch und natürlich auch danach. Polens neuer Außenminister August Zaleski trug seinem britischen Kollegen gleich im Oktober 1939 die Forderung nach Ostpreußen vor. Im November brachte der Exil-Ministerpräsident Wladislaw Sikorski dann schon den Gedanken an eine umfangreichere Kompensation auf deutsche Kosten ins Gespräch.

Es hätte eigentlich ein Wagnis sein müssen, gerade gegenüber britischen Politikern so zu sprechen, denn schließlich verlief die neue, Ende September festgelegte russische Westgrenze recht genau entlang der Curzon-Linie, die in London nicht wenigen als legitime Ostgrenze Polens galt. Zu "kompensieren" gab es daher eigentlich nichts, wenn man sich nicht den zynischen Standpunkt zu eigen machte, daß Polen aus dem Verlust von illegitim okkupiertem Gebiet im Osten ein Recht auf illegitim okkupiertes Gebiet im Westen ableiten könnte. So traf diese Argumentationslinie im Foreign Office auch zunächst auf wenig Gegenliebe. Ganz abgesehen davon, daß man dort in dieser Frühphase des Krieges von einer abgeschlossenen Vision der "Nachkriegsordnung der Sieger" noch weit entfernt war, wiesen die zuständigen Referate auf die Volksabstimmung von 1919 hin, die den deutschen Charakter Ostpreußens drastisch bewiesen hatte: 97,5 Prozent der Bevölkerung stimmten für Deutschland, ein bis heute unerreichter Weltrekord in einer freien Abstimmung, die durch alliierte Truppen international überwacht wurde.

Damals waren keine Fragen über die nicht vorhandene Berechtigung des polnischen Anspruchs auf Ostpreußen offengeblieben, und wohl auch deshalb war jetzt das britische Außenministerium nicht gleich bereit, den polnischen Wünschen entgegenzukommen. Langfristig wirkten die polnischen Ambitionen auf weite Teile Ostdeutschlands aber anregend auf die Phantasie der britischen Nachkriegsplanung.

Westgedanke als feste Größe im polnischen Nationalismus

Den radikalen Plänen Robert Vansittarts, Chefberater des Londoner Außenministeriums, wurde zwar eine Absage erteilt. Sie waren darauf hinausgelaufen, in Deutschland vierzig bis fünfzig Millionen Menschen auszulöschen. Das war auch für Winston Churchill zuviel, der es als "dumm" bezeichnete. Aber in einer Vertreibungslösung für Ostdeutschland bot sich den britischen Planern doch die Chance, der Gestaltung Nachkriegseuropas neben den umfangreichen Bestimmungen eines militärisch-wirtschaftlichen Friedensvertrags (die sich nach dem Ersten Weltkrieg als unwirksames Instrument erwiesen hatten) und einer Teilung Deutschlands (der kaum Chancen auf längeren Bestand eingeräumt wurden) ein substantielles drittes Standbein in Gestalt einer Verkleinerung des deutschen Siedlungsgebiets hinzuzufügen. An den so geschaffenen Tatsachen würden politische Entwicklungen in Deutschland nicht mehr rütteln können. Humanitäre Erwägungen oder die Menschenrechte der betroffenen Bevölkerung spielten keine tragende Rolle.

Offiziell war im Herbst 1939 nur von Ostpreußen, Danzig und Teilen Schlesiens die Rede, aber der polnische Exilgeneralstab ging in seinen Verwaltungsplänen für die neuerworbenen Gebiete in der Regel schon von der Grenze Stettin-Frankfurt/Oder-Breslau aus. Und da bereits in der Vorkriegszeit die deutsche Bevölkerung in Polen als Bedrohung der polnischen Militäroperationen empfunden und "evakuiert" worden war, muß man nicht damit rechnen, daß der polnische Generalstab innerhalb des anvisierten Gebietszuwachses irgendwelche Deutschen dulden wollte. Dies folgte einer Linie, die 1931 in einer Denkschrift des polnischen Auswärtigen Amts vorgegeben worden war, wo die Oder-Neiße-Grenze als Ziel der polnischen Expansion genannt wurde. Solche Gedanken genossen in der polnischen Öffentlichkeit und dem Generalstab seit den zwanziger Jahren durchaus Popularität. Mit Billigung der Regierung wurde im Sommer 1939 dann umfangreich in diese Richtung agitiert, eine Kampagne, die im Londoner Exil dann mit britischer Unterstützung weitergeführt wurde.

Die britische Regierung ließ solche Veröffentlichungen natürlich nicht mit dem Zweck einer Selbstentlarvung der polnischen Expansionspläne der Vorkriegszeit zu. Sie bereitete ihre Öffentlichkeit schon zu diesem Zeitpunkt darauf vor, daß den langjährigen polnischen Aspirationen diesmal bei Kriegsende nachgegeben werden würde.

Alle Interpretationen, die Vertreibungspolitik der Nachkriegszeit sei eine bloße Reaktion auf das deutsche Besatzungsregime im späteren Generalgouvernement, gehen an der Chronologie der Ereignisse vorbei. Der Westgedanke hatte in verschiedenen Varianten seit gut einem Jahrhundert seinen festen Platz in der Vorstellungswelt des polnischen Nationalismus und seit der Jahrhundertwende auch in der Gedankenwelt führender Politiker.

Er paßte zu den Obsessionen im Londoner Außenministerium, wo man als eines der obersten Kriegsziele die "Junker-Klasse" auszulöschen gedachte, eine Zielsetzung, die entscheidend dazu beigetragen hat, daß neben Ostpreußen und Schlesien den polnischen Hoffnungen auch in bezug auf Pommern stattgegeben wurde. Am Ende wurde dennoch nicht die ganze Bevölkerung Ostdeutschlands nach Sibirien deportiert.

Auch der Grund hierfür war jedoch nicht wirklich ein humaner. In Restdeutschland sei wegen der Millionen Kriegsopfer mittlerweile Platz genug für die Ostdeutschen, soll Churchill in Jalta gesagt haben. Die Suche hatte ein Ende gefunden.

Foto: Wladyslaw Sikorski (r.) und Eduard Benesch 1941 in England: Unterstützer der britischen Gestaltung Nachkriegseuropas in Form einer Verkleinerung des deutschen Siedlungsgebiets

Karte: Polen nach 1945: Neue Ostgrenze wie im Curzon-Plan von 1919


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