© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/05 07. Januar 2005

Die reine Lehre
Reformierte Rechtschreibung: Immer mehr Bücher fallen "Säuberungen" zum Opfer
Karin Pfeiffer-Stolz

Die völlig überzogene Diskussion um die Rechtschreibung hat nun dazu geführt, daß die legendäre Sprachpolizei aus dem Rundfunk der fünfziger und sechziger Jahre fröhliche Urständ feiert", schreibt der Schriftsteller Ludwig Laher, Mitglied im neuen Rat für Rechtschreibung, in seiner aktuellen Studie zu den Auswirkungen der neuen Rechtschreibung auf den Umgang mit Texten an Österreichs Pflichtschulen (Schrift & Rede, 13. Dezember 2004). Offensichtlich führen Beliebigkeit und Unsicherheit zu einer ungewollten Radikalisierung im Umgang mit abweichenden Schriftstücken. Nie zuvor in der Geschichte der Schriftsprache hat es soviel Intoleranz in Rechtschreibfragen gegeben wie heute.

Natürlich gibt es kein Rechtschreibgesetz. Dennoch ist die Aussage der Reformer, außerhalb der Schulen dürfe auch nach dem 1. August 2005 jeder weiterhin so schreiben, wie er wolle, nichts als blanker Zynismus. Das meiste Schriftgut, vor allem professionell Schreibender, ist nun einmal für die Öffentlichkeit, unter anderem für die Schulen, bestimmt.

Der Druck der Öffentlichkeit gegenüber Altschreibern aber nimmt zu. Erschreckend ist die fast schon als totalitär zu bezeichnende Neigung, neben der Reformschreibung keine andere mehr gelten zu lassen. Solche Gesinnung wird deutlich, wenn zum Beispiel in Zeitungsredaktionen Leserbriefe selbst gegen den ausdrücklichen Wunsch des Schreibers in Reformschreibung umgeändert werden. Das gilt selbstverständlich erst recht für Autoren. "In vielen Fällen", so Laher, "werden Texte auch ohne Rückfrage durch den Verlag einfach orthographisch angepaßt."

Seit Jahrzehnten werden Anhänger einer vermeintlich fortschrittlichen Pädagogik nicht müde zu beklagen, daß durch die Orthographie "Herrschaftswissen" ausgeübt werde, das vielen Unterschichtkindern den Zugang zur höheren Schulbildung verwehre. In Schüleraufsätzen werde das Inhaltliche kaum gewürdigt, weil das Augenmerk allein der Orthographie gelte. Es werde weniger darauf geachtet, was der Schüler schreibe, als wie er dies tue.

Deshalb forderten progressive Pädagogen vor Jahrzehnten eine Loslösung des Inhalts von der Form. Damit sind sie, was den schulischen Unterricht betrifft, ziemlich erfolgreich gewesen. In vielen Bundesländern werden heute keine Diktate mehr geschrieben, Zensuren für Rechtschreibung werden nicht erteilt, Aufsatzbewertung erfolgt in der Regel ohne Rücksicht auf äußere Form und ohne Ansehen der Orthographie.

Den Erfolgen der neuen Schreibdidaktik jedoch standen bald immer deutlicher sichtbar werdende Mißerfolge im Leistungsniveau der Schüler gegenüber, deren fröhlich-unbekümmerter Umgang mit der Schriftsprache fortan nicht nur in Ausbildungsbetrieben, sondern auch an Universitäten Ratlosigkeit auslösten.

Daß Wertschätzung des rechten Schreibens nicht auf dem Boden schulischer Geringschätzung gedeihen könne, dieser Einsicht verschloß man sich einhellig. Den Weg über das Lernen und Üben wollte man nicht einschlagen. Mehr Erfolg hingegen versprach man sich durch Beseitigung des Hindernisses selbst: Anstatt die Schüler mit Geduld über den Berg zu führen, begann man den Berg abzubaggern. Schulkinder sollten von den geplanten orthographischen Erleichterungen profitieren, die gesamte Gesellschaft am Schulwesen genesen.

Inzwischen zeichnen sich im achten Jahr nach Einführung der Rechtschreibreform die gesellschaftlichen Folgen immer deutlicher ab. Jener Personenkreis, der vormals die "Diktatur" der Orthographie als Modell gesellschaftlicher Ungerechtigkeit geißelte und am liebsten den Inhalt des Geschriebenen von seiner Form hat trennen wollen, genau jener Personenkreis befleißigt sich heute darin, die "reine Lehre" der Reformschreibung bis in alle Winkel der Gesellschaft durchzusetzen.

Von Nachdenklichkeit oder gar Toleranz keine Spur, mit zunehmender Vehemenz werden die äußeren Merkmale der Fortschrittsrechtschreibung verteidigt: das "ss" in "dass" und "Kuss", der "Stängel" etc.pp. Die Reformer haben immerzu und überall "Recht", und nichts tut ihnen "Leid", schon gar nicht jene Kritiker, die als "ewig Gestrige" abqualifiziert werden.

Genau jene Personen, die einstmals die Form verteufelten, um dem Inhalt zu seinem Recht zu verhelfen, sind es, die heute ohne Wimpernzucken Inhalte vernichten, nur der ihnen mißliebigen Form wegen, in die sie gegossen sind. Die ehemaligen Kritiker des Formalen sind es, die sich heute aktiv daran beteiligen, Schulbibliotheken "auszumisten" - aus rein formalen Gründen.

Sie sind es, die in Jugendbuchabteilungen der Stadtbibliotheken nach literarischen Werken in "alter" Rechtschreibung forschen, um sie von "schädlichen" Einflüssen zu befreien. Eine orthographische Säuberungswelle überzieht unser Land. Zwar werden dabei keine Feuer entzündet oder Lieder gegrölt, die Barbarei jedoch ist dieselbe: Bücher werden entsorgt, einzig ihrer geringfügig anderen Rechtschreibung wegen!

Literarische Werke von Rang, darunter preisgekrönte Erzählungen und Romane, immer noch aktuell, bis heute gern gelesen - sie müssen bald als unwiederbringlich verloren gelten, weil sie nicht mehr neu aufgelegt werden. Sie verschwinden aus dem Horizont unserer neuerungssüchtigen Gesellschaft. Die Anhänger der reinen Rechtschreiblehre stufen sie für die Hand unserer Kinder als "schädlich" ein und brandmarken sie als für den Schulgebrauch untauglich.

Wohlgemerkt: Bücher, deren einziger Makel darin besteht, daß ihre Texte "zu viele" Kommas enthalten, das Adjektiv "leid" in der Wendung "leid tun" noch kennen oder "recht" in "recht haben", und in denen "daß" mit scharfem ß zu lesen ist.

Drängen sich da nicht geschichtliche Parallelen auf? Entwickelt sich hier nicht eine bedenkliche Nähe zu einem bereits überwunden geglaubten totalitären Denken? Wie müssen sich Autoren fühlen, deren Bücher aus den Bibliotheken und Schulzimmern entfernt werden, nur weil die bewährte traditionelle Rechtschreibung für pädagogisch untragbar erklärt wird? Die immer wieder geäußerten Bekenntnisse zur Rechtschreibtoleranz werden durch diese Realität Lügen gestraft.

Der anhaltenden Welle von Bibliothekssäuberungen muß endlich von politischer Seite Einhalt geboten werden. Eine Verschiebung des Inkrafttretens der Reformschreibung bringt uns der Lösung keinen Schritt näher. Vielmehr gilt es langfristig der Rechtschreibung wieder die Rolle zuzuweisen, die sie ursprünglich hatte und welche die einzig richtige ist: eine untergeordnete, eine der Verständigung dienende Rolle. Dazu muß man sie aus den Fängen der Ideologie und des Gesellschaftskampfes befreien.

Da ein Rückbau der Reformschreibung in fast allen Bereichen schon im Gange ist, steht fast nur noch die s-Schreibung zur Debatte. Die klassische s-Schreibung darf keinesfalls ihren Status als gültige Schreibform verlieren. Es muß möglich sein, beide Systeme nebeneinander gelten zu lassen, also "Kuss" neben "Kuß" und "dass" neben "daß".

Und die Schüler? Sie leben nunmehr seit acht Jahren mit differierenden Schreibweisen. Da die alte s-Schreibung - die außerdem leichter zu lernen ist als die neue - keinen negativen Lerneffekt auf die neue ss-Schreibung haben dürfte (im Gegenteil, sie erleichtert sogar das Befolgen der Regel "ss statt ß nach kurzem Vokal"), ist auch hierin kein Problem zu erkennen.

Alles hängt nun vom guten Willen und der Weitsichtigkeit aller Entscheidungsträger ab. Unsere Sprache darf nicht mehr Tummelplatz ideologischer und politischer Machtkämpfe sein. Haben wir den Mut, Sprache wieder sich selbst entwickeln zu lassen, und lassen wir unsere gute Literatur in den Bibliotheken stehen - egal, ob mit "dass" oder "daß"!

 

Karin Pfeiffer-Stolz, ehemals Deutschlehrerin, leitet zusammen mit ihrem Mann den Stolz-Schulbuchverlag in Düren, der im vorigen Jahr als erster der Branche zur bewährten Rechtschreibung zurückgekehrt ist (JF 34/04).


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