© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/05 07. Januar 2005

Über die Magie der Text-Räume
Der Germanist Armin von Ungern-Sternberg lädt zu einer literarhistorischen Expedition in die baltischen Erzählregionen
Kai Appold

Nach 1989 war nicht nur auf der weltpolitischen Bühne bis zum Überdruß von der "Rückkehr der Nationen" die Rede. Auch die sozial- und kulturwissenschaftlichen Deutungsmatadore bedienten sich eifrig dieses Schlagworts. Nicht verwunderlich, daß schließlich sogar der lange dem "Postnationalen" huldigende bundesdeutsche Historikerverband der Magie der "Räume" erlag und ihnen im letzten Herbst seine Kieler Tagung widmete. Denn im Schlepptau der zurückgekehrten Nationen beansprucht das allgemeinere Phänomen "räumlich" gebundener Existenz, die "Territorialität" des Menschen, zunehmend das Interesse jener Geisteswissenschaftler, die sich von überkommenen Tabuisierungen nicht schrecken lassen.

Der Germanistik muß man zugestehen, daß sie sich früher als die benachbarten Disziplinen der Thematik näherte. Und zwar seit Ende der siebziger Jahre, im Windschatten des ökologisch getönten "Regionalismus". Norbert Mecklenburgs Kölner Habilitationsschrift über "Regionalismus und Moderne im Roman", die 1982 unter dem Titel "Erzählte Provinz" erschien, gilt noch heute als bahnbrechend. Einen ähnlichen Rang als Pionierwerk nimmt die "Literatur in der Provinz Westfalen" ein, ein "literaturhistorischer Modell-Entwurf", den Renate von Heydebrand 1983 präsentierte. Seitdem ist die Reihe regionaler Literaturgeschichten sowenig abgerissen wie die Kette zumeist "ideologiekritisch" gestrickter Analysen von "Heimatliteratur", wie sie etwa der in den letzten Jahren mehrfach traktierte Gustav Frenssen (JF 18/03) massenwirksam produzierte.

Auf den ersten Blick ist also zu vermuten, daß Armin von Ungern-Sternberg, der heute bei der Hertie-Stiftung "europäische Integrationsprojekte" betreut, mit seiner voluminösen Freiburger Dissertation über die "deutsche Literatur des Baltikums" fast auf ausgetretenen Pfade wandelt und nur Variationen zum Thema bietet. Doch die einschüchternden tausend Seiten, die dieser Sprößling eines bekannten deutschbaltischen Geschlechts offeriert, geben schon einen ersten Hinweis darauf, daß hier jemand der Forschungsroutine Valet sagen möchte. Allein die Annäherungen an das Thema, die Auseinandersetzungen mit seinen Vorgängern - brillant dabei seine moderate Rehabilitierung Josef Nadlers, für den er Herbert Marcuse in den Zeugenstand ruft! -, die methodischen Reflexionen kosten über hundert Seiten, bevor von Ungern-Sternberg den Leser mit seiner "Erzählregion" vertraut macht.

Von Anfang an wird daher klargestellt, daß hier jemand zu einer Tiefenbohrung ansetzt, um alles als ungenügend hinter sich zu lassen, was bisher über "Heimat", "literarische Region", "erzählte Provinz", "Text-Welten" oder "Welt-Räume" geschrieben worden ist. Dabei geht Ungern-Sternberg von einer scheinbaren Trivialität aus: "Ohne räumliche Umgebung ist die Geschichte weder denkbar noch überhaupt niederzuschreiben. Der literarische Raum ist schlechterdings eine condicio literaria." Kein literarisches Werk komme umhin, einen Raum zu entwerfen.

Zunächst mag man in dieser Feststellung nur eine Übersetzung der kantischen Bestimmung von Raum und Zeit als elementaren Anschauungsformen sehen, ohne die Denken und Erkennen gar nicht möglich ist, folglich auch kein "Dichten". Bei intensiver Beschäftigung mit dieser vermeintlich banalen Ausgangsposition, wie sie Ungern-Sternberg hier vorführt, wird schnell deutlich, welche literaturwissenschaftlich bislang vernachlässigten Probleme hier liegen. Offenkundig ist der Raum des Lesers ein anderer als der des Autors.

Bei der "Raumaufspannung" wirken also Produzent und Rezipient zusammen. Ein solcher "Akt des Lesens" ist zwar seit Wolfgang Isers bekannter "Theorie ästhetischer Wirkung" (1976) öfter zum Gegenstand - mitunter schon ins Neurologische abirrender - Analysen gemacht worden, doch insgesamt sind diese Bemühungen zur Fundierung einer Rezeptionsästhetik weder literatur- noch kunstwissenschaftlich sonderlich beeindruckend, so daß auch Ungern-Sternberg nur auf Desiderate hinweisen kann. Dies gilt genauso für zahlreiche "Bewußtseinsphänomene", die er mit der literarischen Produktion von "Erzählregionen" verknüpft: etwa die Form der "Raumidentifikation", die "Perspektivierung" von Wirklichkeit, die angeblich "Liebe zur Heimat" inspiriert, oder die erzähltechnischen Mechanismen, denen die magische Macht zugeschrieben wird, dem Leser "umfassende Orientierung und das Gefühl der Geborgenheit" zu vermitteln.

Ungern-Sternberg spürt hier überall ein Ungenügen, und er teilt diese eigene Verunsicherung seinen Lesern mit. Es ist aber nicht zu bestreiten, daß dieses Umkreisen der Philosophie des Raumes sich verselbständigt. Der Verfasser hätte darüber, entsprechend des "doppeldeutigen" Untertitels, eine monographische Untersuchung publizieren sollen, und separat dann seine zitatenreiche Topographie der baltischen Erzählregion. Denn diese "Erzählregion" profitiert von seinen "Raum-Reflexionen" nicht in dem Umfang, wie man erwartet hat. Im Kern destilliert Ungern-Sternberg aus seinem letztlich enttäuschend schmalen Textkorpus - in den neben der "Trivialliteratur" und einigen Zeugnissen der "Hochliteratur" vom Schlage Eduard von Keyserlings leider die "populär" geschriebene Landeskunde nicht einbezogen wird - nur wenige "typisch baltische" Raumelemente.

Am deutlichsten treten sie in einem fast flüchtig anmutenden Vergleich mit der "Erzählregion" Ostpreußen hervor. Die östliche Provinz des Deutschen Reiches präsentiere sich durchweg als "Grenzland", vielfach sozial gegliedert, als ethnisch zerfurchter und gefährdeter Vorposten gegen "Asien". Das Baltikum hingegen erscheine als kulturell, ökonomisch und sozial erstaunlich homogener Raum. Mittelpunkte des Lebens sind Gutshäuser und Pastorate. Das städtische Leben wird kaum berührt oder ist nur als Fortsetzung ländlicher Geselligkeit in Szene gesetzt. Riga, Reval, Dorpat sind nicht mehr als Ortsnamen. Der Industrialisierungsprozeß - Riga weist vor dem Ersten Weltkrieg fast 100.000 Fabrikarbeiter auf - bleibt ausgeblendet, die demogra-phische Krise der deutschbaltischen Oberschicht, deren Bevölkerungsanteil allein in Riga zwischen 1867 und 1913 von 42 auf 13 Prozent sinkt, ist nie ein Thema, Letten und Esten finden höchstens als Dienstboten literarische Beachtung, der Prozeß ihrer "Nationalisierung" wird ignoriert. Im "Erzählraum" bleibt man unter sich. Im Kern also imaginiert baltische Literatur die "heile Welt" auf "gegenseitiger Achtung beruhender patriarchalischer Verhältnisse", auch und gerade als man in den Republiken Lettland und Estland "längst" zu einer "einflußlosen Minderheit" geworden war.

Um das aber zu konstatieren, bedurfte es nicht der - für sich genommen freilich nicht hoch genug zu schätzenden - Exkursionen in die Labyrinthe der Erzähltheorie, ja noch nicht einmal der bis ins 18. Jahrhundert zurückführenden Schilderung der "Selbst- und Fremddarstellung" des baltischen Raumes, für die der Kotzebue, Schiller, E. T. A. Hoffmann, Garlieb Merkel und allerlei Sterne dritter Ordnung zitierende Ungern-Sternberg allein dreihundert Seiten benötigt. An dieser Stelle gewinnt fast ein drittes Buch im Buch Konturen, nämlich eine herkömmliche baltische Literaturgeschichte.

Insgesamt sind dies keine marginalen Einwände gegen Ungern-Sternbergs ehrgeiziges Unterfangen, der literaturwissenschaftlichen Erforschung von "Erzählregionen" neue Grundlagen zu verschaffen. Doch selbst dort, wo er über weite Strecken nur Fragen aufwirft, wirkt sein Opus unendlich viel anregender als jene Aufsatzsammlung, die sich literatur-geographisch in seiner Nähe ansiedelt. Denn die Einsichten, die uns in den "Erkundungen des deutsch-polnisch-baltischen Ostseeraums" angeboten werden, stammen - gemessen an Ungern-Sternbergs Problembewußtsein - geradewegs aus dem germanistischen Kindergarten. Natürlich war zu erwarten, daß von Johannes Bobrowski, Hermann Sudermann, Uwe Johnson und Günter Grass die Rede sein wird. Aber was kommt dabei heraus? Zu Bobrowski, der hier gleich dreimal Interpreten animiert, werden Pflichtübungen abgeliefert, die nicht etwa die strukturelle Komposition des fiktiven Raums "Sarmatien" erkunden, sondern nach Art eines Leitfadens für die Lyrik-Interpretation in der Untersekunda darüber aufklären, daß "Fischen" für den an der Memel geborenen Verfasser von "Schattenland Ströme" eine "Erinnerungsmetapher" gewesen sei.

Daß bei Uwe Johnson die mecklenburgische "Natur als Ort der Liebe abseits der Gesellschaft" erscheint, ist dazu die passende Ergänzung. Zumal, wenn einem sonst nichts mehr einfällt, taugt "Natur" eben immer als womöglich sogar gesellschaftskritisch konnotierte "Gegenwelt". Inmitten dieser Tristesse plazieren die Herausgeber - unter ihnen der im Streit mit der Landsmannschaft aus der Leitung des Travemünder Pommernzentrums ausgeschiedene extrem polonophile FDP-Mann Dietmar Albrecht - zwei bedenklich schlechte Aufsätze zum "Landschaftsdiskurs" über die Kurische Nehrung und über den "Topos Masurens als verlorenes Paradies in der deutschsprachigen Literatur Ostpreußens". Die beiden Verfasserinnen, eine Litauerin und eine Polin, bieten nicht mehr als ein Zitaten-Potpourri auf dürftigster Textbasis. An Einfalt kaum zu übertreffen ist folglich die Bilanz der litauischen Germanistin Regina Sinkeviciene, die an der Universität Wilna doziert: "Die besprochenen Werke zeugen davon, wieviel Deutungen und Symbole über die Landschaft der Kurischen Nehrung verfaßt wurden." Ja - und wie es entsprechend tiefgründig in vielen Heimatchroniken heißt: "Für die Gesundheit sorgen die Ärzte." Aber für jemanden, der Nidden zum "Städtchen" erhöht und der für den im "Norden Litauens" stattfindenden "Dialog des Menschen mit der Natur" auf Martin Buber zurückgreift, sind das vermutlich schon grundstürzende Erkenntnisse. Und wo versucht wird, derartigen Flachsinn hinter sich zu lassen und die Gipfelregionen, in denen Ungern-Sternberg herumklettert, wenigstens von Ferne einmal ins Auge zu fassen, da fällt den Autoren nichts Gescheiteres ein, als auf das Ehepaar Jan und Aleida Assmann zu rekurrieren, deren Begrifflichkeit zum Thema "kulturelles Gedächtnis" und "Erinnerungsräume" mittlerweile sämtliche Nachfolgerinnen jener trefflich parodierten Gemüsefrau repetieren, die einst mit ihren Kunden ebenso eloquent über Ernst Jünger wie über Gottfried Benn im Jargon des gehobenen Feuilletons zu parlieren wußte.

Bild: Blick über Dorpat (Eduard Iwansohn, 1860): Heile Welt auf gegenseitiger Achtung beruhender Verhältnisse

Armin von Ungern-Sternberg: "Erzählregionen". Überlegungen zu literarischen Räumen mit Blick auf die deutsche Literatur des Baltikums, das Baltikum und die deutsche Literatur. Aisthesis Verlag, Bielefeld 2003, 1.009 Seiten, Abbildungen, gebunden, 49,80 Euro.

Bernd Neumann, Dietmar Albrecht, Andrej Talarczyk (Hrsg.): Literatur - Grenzen - Erinnerungsräume. Erkundungen des deutsch-polnisch-baltischen Ostseeraums als einer Literaturlandschaft. Königshausen & Neumann, Würzburg 2004, 425 Seiten, broschiert, 39,80 Euro.


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