© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/05 14. Januar 2005

Der totale Zusammenbruch
Die Generaloffensive der Roten Armee am 12. Januar 1945 leitete die Niederlage und den Verlust der ostdeutschen Provinzen ein
Heinz Magenheimer

Die Gesamtlage gestaltete sich zum Jahresbeginn 1945 für Deutschland derart nach­teilig, daß es kaum mehr eine Chance auf eine Wende gab. Nachdem die Offensive in den Ardennen am 24. Dezember 1944 als gescheitert gelten konnte, war sich die ober­ste Führung uneins, wie die noch vorhan­denen Reserven einzusetzen wären. Hitler befahl in der Nacht zum 1. Januar einen neuen Angriff im nördlichen Elsaß, um die Initiative, die man mühsam errungen hatte, nicht einzubüßen. Doch es drohten andere Gefahren.

Der Heeresgeneralstab unter Generaloberst Heinz Guderian bestand auf einer Verstärkung der Ostfront, wo seit Wochen die sowjetischen Angriffs-vorberei­tungen erkennbar waren. Guderian wurde mehrmals bei Hitler und General Jodl, seinem Chefbera­ter, vorstellig und verlangte, mög­lichst viele Kräfte nach Osten zu werfen. Doch Hitler, der zu diesem Zeitpunkt bereits den Eindruck eines zermürbten und deprimierten Mannes machte, konnte sich nur zur Freigabe von zwei Divisionen entschließen. Dazu kam, daß ein kampfstarkes SS-Panzerkorps in Ostpreußen herausgelöst und nach Ungarn verlegt wurde, um Buda­pest zu entsetzen, das seit dem 24. Dezember von sowjeti­schen Kräften einge­schlossen war. Doch der Ent­satzangriff scheiterte. Damit wurden wert­volle Panzerkräfte gebunden, die bitter fehlen sollten, als die sowjetische Groß­offen­sive losbrach.

Ein letzter Versuch, mit dem Einsatz von über 1.000 Kampfflugzeugen am 1. Januar 1945 die Luftlage im Westen zu wenden, scheiterte verlustreich. Die Alliier­ten gaben ihre Luftherrschaft nicht mehr aus der Hand und gingen zum Gegenangriff gegen den weit nach Westen ragenden Einbruchskeil in den Ardennen über. Der deutsche Rück­zug ab dem 8. Januar kam zu spät, um noch namhafte Kräfte freizumachen.

Die Vorbereitung der Abwehrschlacht zwischen der Memel im Norden und den Beski­den im Süden war gründlich und begann schon im September 1944. Die beiden ein­gesetzten Heeresgruppen (HGr.) Mitte und A entwarfen ein ausgeklügeltes Abwehr­verfahren. Die Truppe legte drei hintereinander liegende Stellungen an, wobei die beiden vorderen kurz vor Beginn des Feindangriffs geräumt werden sollten, um das gefürchtete Vorbereitungsfeuer wirkungslos verpuffen zu lassen. Die Front­truppe sollte auf die "Großkampfstellung" ausweichen und dort, gestützt auf örtliche Reser­ven, den Angriff abwehren, während die Artillerie Sperrfeuer auf das ge­räumte Vor­feld schoß. Käme es trotzdem zu Durchbrüchen, so war es Aufgabe der gepanzerten Reserven, diese aufzufangen und abzuriegeln. Das Problem lag darin, daß die höheren Kommandostellen den bevorstehenden Feind­angriff erkennen mußten, um der Truppe das rechtzeitige Ausweichen zu befehlen. Im tiefen Hinterland hatte man obendrein mehrere Stellungs­sy­steme angelegt, die von Ostpreußen bis Süd­po­len verliefen und der Truppe Rückhalt bieten sollten. Aller­dings fehl­ten Trup­pen­teile, um diese Stellungen zu besetzen.

Das Problem lag jedoch in der enormen zahlenmäßigen Unterle­genheit. Das Kräfte­verhältnis an der Ostfront hatte sich Anfang 1945 gegen­über den Herbsttagen zuun­gunsten der Wehrmacht verändert. Auf sowjetischer Seite konnte man 6,7 Millionen Mann mit über 12.000 Panzern und Sturmgeschüt­zen sowie 14.700 Kampfflugzeuge aufbieten, wogegen an der Ostfront nur etwa 1,8 Millionen Mann im Rahmen der HGr. Nord, Mitte, A und Süd mit 145 Divi­sionen und Briga­den standen. Die HGr. A, die den Abschnitt zwischen War­schau und Kaschau vertei­digte, hatte Divisions­breiten von durchschnitt­lich 24 Kilometern, so daß nur 133 Soldaten auf einen Kilo­meter kamen.

An Reserven der höheren Führung verfügte die HGr. A bloß über knapp mehr als fünf Panzer- und Panzer-grenadier­divisionen mit 930 Kampfwagen, während die HGr. Mitte aufgrund der Abgaben nach Ungarn gar nur vier sowie eine geschwächte Panzerdivision in Reserve hatte. Dazu kam, daß die HGr. Nord mit 32 Divisionen in Kurland abgeschnitten war. Hitler lehnte aber die Räumung Kurlands ab, um starke Teile des Gegners zu binden.

In dieser Lage beginnt in den frühen Morgenstunden des 12. Januar der sowjetische Großangriff am Weichsel-Brückenkopf Baranow, wo auf engem Raum vier Armeen und zwei Panzerarmeen zum Durchbruch antreten. Die Führung der HGr. A hat sich nicht zur Räumung der vorderen Linien entschlossen, da sie für den 12. Januar aufgrund des schlechten Flugwetters keinen Angriff erwartet hat. So wird die Front unter einem ungeheuren Artillerie- und Panzereinsatz an zahlreichen Stellen auf­gerissen; örtliche Reserven werden überrannt; die wenigen Gegenangriffe brechen bald zusammen, und schon am Abend des ersten Tages zeichnet sich der operative Durchbruch ab. Beim Angriff aus dem Weichsel-Brücken­kopf Warka können zwar die Verteidiger am 14. Januar den Angriff von drei Armeen verzö­gern, doch zwei Panzerarmeen erzwingen tags darauf den Durchbruch in die Tiefe nach Westen und Nordwesten.

Zwischen den Angriffskeilen wird die Masse der deutschen 9. Armee und 4. Panzer­armee aufgerieben. Nur wenigen Truppen, wie etwa der 371. Volksgrena­dierdivision, gelingt das mühselige Zurückkämpfen gegen überholende Feindteile. Ein isoliertes Panzerkorps bewegt sich kämpfend über die Pilica und obere Warthe nach Westen, zieht Versprengte an sich und erreicht schließlich arg geschwächt Ende Januar die deutschen Linien in Schlesien. Warschau wird in der Nacht zum 17. Januar aufgegeben, um den Verlust der Besatzung zu verhindern. Fünf Tage nach Beginn der Offensive müssen die wenigen intakten Verbände auf einer Breite von 250 Kilometer gegen ständige Flankenangriffe kämpfen und sich unter harten Entbeh­rungen nach Westen durch­schlagen. Manche Städte wie Thorn, Bromberg und Posen werden zu Festun­gen erklärt und leisten hartnäckigen Widerstand, der die Angriffswucht teil­weise bricht. Dennoch durchstoßen die sowjetischen Angriffsspitzen die ehemalige Ostbefestigung westlich von Posen, die noch vor Kriegsbeginn angelegt worden ist, der aber die Besatzung fehlt, und gewinnen Ende Januar die Oder bei Küstrin.

Die sowjetischen Angriffe gegen Ostpreußen von Osten und Südosten ab dem 13. Januar waren nicht weniger heftig, doch erlaubte die dichtere Konzentration der Deutschen eine hartnäckige Verteidigung. An einigen Abschnitten wurde das Ver­fahren der Großkampfzone angewendet, wobei der Angreifer schwere Verlu­ste erlitt. Der fron­tale Angriff in Richtung Königsberg konnte aufgefangen werden, doch der Durch­bruch über den Narew nach Nordwesten bedrohte ganz Ostpreußen mit der Einkes­selung, die mit dem Vorstoß bis zum Frischen Haff östlich von Elbing Ende Januar auch gelang. Kurz zuvor hatte Generaloberst Hans-Georg Reinhardt, der die HGr. Mitte führte, die Rücknahme noch nicht angegriffener Truppen verfügt, um mit freiwerdenden Kräften an die untere Weichsel durchzubrechen, wo die zäh kämpfende 2. Armee einen großen Brückenkopf offenhielt.

Es war die Absicht des Generals, mit der Masse der Heeres­gruppe samt allen marschbereiten Flüchtlingen nach Westen durchzubrechen und notfalls Ostpreußen aufzugeben. Doch Hitler verbot die Absetzbewegung und befahl die Verteidigung des verbliebenen Gebietes. Diese Entscheidung stürzte zwar die Heeresführung in eine bittere Krise, bewahrte jedoch sehr viele Frauen, Kinder und alte Männer vor einem furchtbaren Schicksal, da sie sich über das Frische Haff oder über den Hafen Pillau retten konnten. In dieser Phase ging es vorrangig darum, auch in aussichtslosen Lagen Widerstand zu leisten, um der Zivilbevölkerung die Flucht zu ermöglichen. In den eroberten Gebieten wurden von der Roten Armee besonders an Frauen furchtbare Exzesse verübt, die aber nicht so sehr einer sieges­trunkenen Soldateska, sondern eher einer jahrelangen Haßpropaganda zuzuschrei­ben waren. Diese Rachegier der Soldaten wurde obendrein von der Generalität durch grimmige Tagesbefehle geschürt.

Während nun in den aufgegebenen Gebieten schreckliche Orgien tobten, die an Wehrlosen verübt wurden, bemühte sich die Heeresleitung, eine neue Front in Schlesien, Hinterpommern und an der Oder aufzubauen. Dazu dienten gerettete Truppen, Neuformationen sowie Verbände aus Kurland, Italien und dem Westen, die endlich von Hitler freigegeben wurden. Immerhin gelang es bis zum 12. Februar, der Ostfront 33 Divisionen zuzuführen. Wenn auch dieses Aufgebot zu spät kam, um ein Vordringen des Gegners zu verhindern, so erkennt man, zu welcher Kraftanstrengung die Wehrmacht kurz vor Kriegsende noch fähig war. Obwohl noch an vielen Stellen Abwehrerfolge errungen wurden, diente der Kampf vielfach nur dazu, die Flucht der Bevölkerung zu decken.

 

Dr. Heinz Magenheimer ist Militärhistoriker und lehrt an der Landesverteidigungsakademie Wien und an der Universität Salzburg. 1997 veröffentlichte er das Werk "Die Militärstrategie Deutschlands 1940-1945".

Foto: Sowjetisches Propaganda-Plakat beschwört Macht der Artillerie: Enorme zahlenmäßige Überlegenheit


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