© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/05 14. Januar 2005

Letzter großer Coup der Stasi
Die "Erstürmung" der Berliner Stasi-Zentrale am 15. Januar 1990 nutzte nur der Behörde selbst / In dem Tumult konnten viele Dokumente beseitigt werden
Ekkehard Schultz

W as geschah am 15. Januar 1990 in und um den Komplex der Zentrale des DDR-Staatssicherheitsdienstes (MfS) an der Normannenstraße im Ost-Berliner Stadtteil Lichtenberg wirklich? War es tatsächlich den damaligen Vertretern der Bürgerkomitees allein gelungen, die neben der SED mächtigste Institution in dieser totalitären Diktatur im Handstreich "aufzulösen" bzw. "einzunehmen"? Oder steckte vielmehr ein letzter großer Coup des MfS und der damaligen provisorischen DDR-Regierung unter Hans Modrow dahinter?

Auch heute liegen manche Umstände der Besetzung immer noch im Dunkeln. Insgesamt haben sich jedoch in den letzten Jahren die Hinweise auf eine Inszenierung verdichtet. So vermutet der DDR-Bürgerrechtler Wolfgang Templin, der unmittelbar als Zeitzeuge diesem Ereignis beiwohnte, daß der "Erstürmung" konkrete Absprachen zwischen einigen Bürgerrechtlern, Spitzen der Staatssicherheit und den Modrow-Leuten vorausgingen.

Wichtig für die spätere Beurteilung der Ereignisse ist zunächst, daß im Gegensatz zur Erstürmung vieler Bezirksverwaltungen und lokaler Außenstellen des MfS im Dezember 1989 - wie zum Beispiel in Leipzig und Erfurt - eine Besetzung der Berliner Zentrale zunächst nicht erfolgte. Eine Ursache dafür war, daß es der DDR-Regierung unter Hans Modrow gelungen war, an den mittlerweile legendären "Runden Tischen" Vertreter der Kirchen und der oppositionellen Parteien und Gruppierungen zu überzeugen, die einstigen Machtzentralen der Partei und ihr nahestehender Gruppen unverzüglich sich selbst auflösen zu lassen, um eine möglichst "reibungslose Übergabe" an die Bürgervertreter zu ermöglichen. Dieser aus heutiger Sicht folgenschwere Fehler verschaffte der DDR-Führung die Gelegenheit, innerhalb der folgenden Tage und Wochen wichtiges Aktenmaterial zu vernichten bzw. an andere Orte zu schaffen.

Diese Hinhaltetaktik wurde erfolgreich bis zum 12. Januar 1990 praktiziert. Erst an diesem Tag einigten sich Bürgervertreter aus allen DDR-Bezirken darauf, unverzüglich auf die sofortige Auflösung der MfS-Zentrale zu drängen. So nahm ein Teil von ihnen weiterhin an den Sitzungen am Runden Tisch teil und erwirkte von Modrow die rechtlichen Voraussetzungen zu einer friedlichen Übernahme. Ausgerüstet mit dieser Vollmacht begaben sich am Morgen des 15. Januar 1990 zirka zwanzig ausgewählte Mitglieder von Bürgerinitiativen und -komitees zu dem Komplex, wo sie sich zu diesem Zeitpunkt immer noch mit ihrer Sichtlegitimation bei den Kontrolleuren des MfS-Nachfolgers Amt für Nationale Sicherheit (AfNS) melden und um Einlaß ersuchen mußten. Immer noch sahen die AfNS-Beschäftigten ihre Aufgabe darin, "das Objekt zu sichern" und "aufzupassen, daß nichts weggenommen und nichts zerstört" wurde. Um neun Uhr wurde schließlich die Zentrale für besetzt erklärt und die einstigen MfS-Mitarbeiter offiziell ihrer Macht enthoben. Zu diesem Zweck versiegelte der am Ort befindliche Militärstaatsanwalt die Archiv- und Diensträume.

Die Massen wurden gezielt in unwichtige Bereiche gelenkt

Doch eine wirklich nachhaltige Kontrolle der Räume und des dort verbliebenen Personals war den wenigen Bürgerrechtlern aufgrund der Größe der Örtlichkeiten sowie der fehlenden Kenntnisse über die Lage der tatsächlich wesentlichen Bereiche nicht möglich. So kann es heute als gesichert gelten, daß in den nächsten Stunden die Vernichtung von Aktenmaterial andauerte. Außerdem wurde später festgestellt, daß bis zum Abend ein größerer Teil der anwaltlichen Siegel aufgebrochen worden war. Die Meldung über die erfolgreiche Übergabe der MfS-Zentrale gelangte schnell in die Öffentlichkeit.

Die Bedeutung der Meldung, daß das Gebäude jedoch bereits übergeben worden sei, wurde im Trubel der Ereignisse nicht erfaßt. Statt dessen riefen Vertreter des Neuen Forums die Bürger zur Demonstration an der Normannenstraße auf. Dem Aufruf folgten einige tausend - darunter auch eine Reihe von MfS-Mitarbeitern. Die Demonstranten forderten friedlich Einlaß in den Komplex.

Kurz nach 18 Uhr tauchte Modrow, flankiert von Markus Meckel und Ibrahim Böhme auf, der sich auf einen Stuhl stellte und eine kurze Rede hielt, jedoch von den Demonstranten ausgepfiffen wurde. Schließlich wurden gegen 19.00 Uhr die Tore geöffnet, und die Menschen drängten in den Komplex. Dabei gelang es den anwesenden MfS-Mitarbeitern, die Massen gezielt in die weniger wesentlichen Bereiche zu lenken. Ein Ziel bestand dabei auch darin, die Demonstranten zu spontanen Zerstörungstaten an wenig wertvollen Objekten zu verleiten, um sie nachträglich als "kulturlos" darstellen zu können. Tatsächlich gelang auch dieser aus heutiger Sicht eher naiv erscheinende Plan.

Sowohl die Reporter der DDR-Nachrichtensendung "Aktuelle Kamera" als auch des Spiegels machten sich in ihren vor Ort aufgezeichneten und später ausgestrahlten Dokumentationen über die "Eindringlinge" lustig, während die MfS-Mitarbeiter fast ausschließlich als bereitwillige und höfliche Interviewpartner auf dem Bildschirm zu sehen waren.

Erst gegen 21 Uhr drangen Bürgerrechtler in die wichtigeren Bereiche vor, wo sie der zur Abwicklung des AfNS von Modrow beauftragte Generalmajor Engelhardt bereits erwartete. In einer peinlichen, ebenfalls vom Fernsehen aufgezeichneten Szene ließen sich einige Bürgerrechtler überreden, zusammen mit Engelhardt in dessen Dienstzimmer Wodka zu trinken.

Templin räumte wenige Jahre später selbstkritisch ein, daß der 15. Januar 1990 ein Tag "der verschenkten großen Gelegenheiten" war. Man sei schlicht und ergreifend "überfordert" und der "Gegenseite nicht gewachsen" gewesen: "Es muß eingestanden werden, daß wir am Runden Tisch und in den Bürgerkomitees durch unsere Blauäugigkeit unseren Anteil daran haben, daß Markus Wolf heute vollkommen unbehelligt Kochbücher verfassen kann", so Templin im Rückblick.


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