© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/05 21. Januar 2005

Globaler Krieg gegen ungeborenes Leben
Familienpolitik: Weltweit gibt es jährlich etwa 46 Millionen Abtreibungen - ein Viertel aller Schwangerschaften auf dem Erdball
Peter Lattas

Kardinal Meisner hat nicht übertrieben. Weltweit hat die Tötung ungeborener Kinder unvorstellbare Dimensionen erreicht. Allein in den USA wurden in den dreißig Jahren seit Freigabe der Abtreibung rund 40 Millionen ungeborene Kinder legal getötet. In Rußland werden Jahr für Jahr 2,1 Millionen Kinder abgetrieben, aber nur 1,7 Millionen geboren.

Für China bewegen sich die Schätzungen zwischen mindestens zwei und bis zu zehn Millionen Abtreibungen jährlich. Dient die Tötung ungeborener Kinder in den Industrieländern der alten und neuen Welt vor allem der individualistischen Lebensgestaltung, wird sie in den asiatischen Milliardenstaaten China und Indien rücksichtslos zur Bevölkerungsplanung eingesetzt. Insgesamt rechnet die Weltgesundheitsorganisation WHO jährlich mit 46 Millionen Abtreibungen - ein Viertel aller Schwangerschaften auf dem Erdball.

Glaubenskrieg in einer tief gespaltenen Nation

USA: Am 22. Januar werden wieder Tausende US-Abtreibungsgegner in Washington demonstrieren. An diesem Datum annullierte der oberste Gerichtshof der USA im Jahr 1973 ein Gesetz, das Abtreibung unter Strafe stellte; in einigen Bundesstaaten war sie schon vorher legal. Die Abtreibungsrate stieg sprunghaft und hat sich bei 1,3 Millionen pro Jahr eingependelt, was einer Quote von 21,3 Abtreibungen auf tausend Frauen im gebärfähigen Alter (15 bis 44) entspricht. Etwa jede dritte Schwangerschaft endet im Abortus; in Staaten, die Abtreibung nicht finanziell unterstützen, nur jede vierte, in anderen fast vierzig Prozent.

Mit dem spektakulären Urteil im Musterprozeß "Roe vs. Wade" war die Auseinandersetzung keineswegs beendet. Befürworter und Gegner der Abtreibung kämpfen mit harten Bandagen. Eine "Center for Reproductive Rights" (Zentrum für Reproduktionsrechte) genannte Lobbygruppe will auch Pfarrer als Abtreibungsbefürworter gewinnen. Die Organisation, die Beraterstatus bei der Uno genießt, will "Abtreibung auf Verlangen" zum weltweit anerkannten Grundrecht erheben.

Auch die erste Lobbyorganisation Naral (National Abortion Rights Action League) ist nach wie vor aktiv. Ihr Gründer, Bernard Nathanson, ist inzwischen allerdings Kronzeuge der Abtreibungsgegner, der mit Veröffentlichungen über Manipulationen der Naral im von ihr finanzierten "Roe vs. Wade"-Prozeß Aufsehen erregte. Vor allem die Zahlen illegaler Abtreibungen und der an ihnen gestorbenen Frauen seien skrupellos übertrieben worden.

Auch Norma McCorvey, die 1973 mit Nathanson unter dem Pseudonym "Jane Roe" die Freigabe der Abtreibung erstritt, hat die Seiten gewechselt und zog 2004 für Präsident George W. Bush in den Wahlkampf, weil er "dem Lebensschutz verpflichtet" sei. Die Abtreibungsfrage war ein zentrales Thema im Präsidentenwahlkampf; sie macht die ideologische Spaltung der USA sichtbar: Nur vier Prozent der einflußreichen konservativ-christ­lichen Evangelikalen befürworten sie, dagegen aber 71 Prozent der Atheisten und 45 Prozent der Anhänger anderer Religionen. Auch auf internationalen Konferenzen setzen sich die USA regelmäßig für die Bekämpfung der Abtreibung ein und sind damit ebenso regelmäßig isoliert.

Rußland: Völlig anders sind die Verhältnisse im nach sieben Jahrzehnten KP-Diktatur weitgehend entchristlichten Rußland. Es hält im europäischen Vergleich den traurigen Rekord der höchsten Abtreibungsquote - 54,2 pro tausend Frauen im gebärfähigen Alter, siebenmal höher als in Deutschland. Die Bevölkerung der einstigen Supermacht schrumpft, nicht zuletzt infolge der hohen Zahl von Abtreibungen, die inzwischen die Zahl der lebendgeborenen Kinder überschritten hat. Wie die meisten Osteuropäerinnen wenden auch die Russinnen kaum moderne Verhütungsmittel an, die oft unbezahlbar sind. Abtreibung ist wie zu Sowjetzeiten ein gängiges Mittel der "Hinterher-Verhütung". Frauen, die zahlreiche Abbrüche haben, sind keine Seltenheit.

Da die hygienischen Verhältnisse ebenso wie der Ausbildungsstand des Personals in vielen Krankenhäusern inzwischen zu wünschen übriglassen, ist der Eingriff oft riskant. In Rußland steigt die Sterblichkeitsrate dramatisch. Jedes Jahr sterben fast doppelt so viele Menschen, wie geboren werden; die Uno schätzt, daß die russische Bevölkerung in den nächsten fünfzig Jahren von 145 auf 100 Millionen schrumpfen wird. Die herrschende Abtreibungspraxis erscheint als Beitrag zur Selbstausrottung.

China: Wenn es irgendwo berechtigt ist, bei Abtreibung von staatlich organisiertem Massenmord zu sprechen, dann zweifellos im Falle Chinas. Abtreibung ist Mittel zum Zweck bei der Durchsetzung der 1979 verordneten "Ein-Kind-Politik" zur Begrenzung der Bevölkerungsexplosion. Da eine nicht genehmigte zweite Schwangerschaft einem Verbrechen gleichkommt (nur bei Minderheiten und auf dem Land handhabte man die Politik weniger streng), sind Zwangsabtreibungen gängige Praxis.

Menschenrechtsorganisationen berichten zudem, daß Neugeborene, die eine Zwangsabtreibung überlebt haben oder von ihren Eltern verborgen wurden, erstickt, ertränkt oder mit Injektionen in die Schädelfontanelle getötet werden. Weil der UN-Bevölkerungsfonds die chinesische Bevölkerungspolitik per Abtreibung unterstützt, hat US-Präsident Bush wie seine republikanischen Amtsvorgänger Bush senior und Ronald Reagan die finanzielle Unterstützung eingefroren.

Inzwischen denkt man in Peking an eine Lockerung der "Ein-Kind-Politik". Da männlicher Nachwuchs traditionell höher im Kurs steht, wurden Mädchen oft gezielt getötet. Die durch neue Diagnosemethoden mögliche selektive Abtreibung weiblicher Föten soll verboten werden. Bereits heute kommen auf 100 weibliche 120 männliche Neugeborene; üblich wären 103 bis 107.

Demographen prophezeien, daß das gestörte Geschlechtergleichgewicht China künftig schwer belasten wird: Für Männer wird die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt härter, in einigen Jahren werden 50 Millionen Chinesen keine Frau mehr finden können. Bereits jetzt verzeichnen die Behörden Hochkonjunktur bei Menschenhändlern, die aus Vietnam oder anderen Ländern entführte Frauen an Chinesen verkaufen.

Indien: Indien hat als erstes Land der Welt bereits 1953 die Abtreibung gesetzlich freigegeben. Als "medizinische Schwangerschafts-Beendigung" unterlag die Abtreibung praktisch keinen gesetzlichen oder medizinischen Einschränkungen.

Da auch in Indien Frauen und Mädchen gering geachtet werden und zudem Verheiratung und Mitgift Brauteltern auch heute noch ins Elend stürzen kann, ist ebenso wie in China in den letzten Jahren die vorgeburtliche Geschlechtsbestimmung und gezielte Tötung von Mädchen im Mutterleib in Mode gekommen. Gesetze, die dagegen erlassen wurden, blieben ebenso wirkungslos wie das Verbot von Witwenverbrennung oder Mitgiftwucher.

Japan: Im Reich der aufgehenden Sonne ist Abtreibung gesetzlich erlaubt, allerdings nur aus gesundheitlichen Gründen oder nach einer Vergewaltigung. Dennoch ist auch in Japan Abtreibung ein praktiziertes Mittel der "Geburtenkontrolle"; im Jahre 2001 gab es über 46.000 Abtreibungen, Schätzungen belaufen sich auf das Zehnfache.

Die Japaner, von denen wie bei den Chinesen nur eine kleine Minderheit dem Christentum anhängt, erachten gleichwohl die Ungeborenen als Wesen, für deren Seelen gebetet werden muß. Auf Friedhöfen und Tempeln finden sich mitunter ganze Armeen von Jizo-Statuen, die Eltern den Seelen ihrer "Wasser­kinder" gestiftet haben.

Europa: Das Spektrum in Europa reicht von der restriktiven irischen Position bis zum extrem freizügigen holländischen Abtreibungsrecht - mit Tendenz zur weiteren Aufweichung. Die Schweiz hat 2002 eine Fristenregelung eingeführt, der eine fast dreißigjährige beharrliche Lobbyarbeit der Schweizerischen Vereinigung für Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs (SVSS) vorausgegangen war. Fristenregelungen gelten außerdem in Belgien, Dänemark, Frankreich, Italien, den Niederlanden, Norwegen, Österreich, Schweden sowie in fast ganz Ost- und Mitteleuropa. Weitgehende Indikationenregelungen sind dagegen in Großbritannien, Finnland, Irland, Island, Polen, Portugal und Spanien in Kraft.

Am restriktivsten ist die irische Regelung, die Abtreibungen nur bei Lebensgefahr für die Frau erlaubt. Allerdings stellt Irland seinen Bürgerinnen frei, zur Abtreibung ein anderes Land aufzusuchen; mindestens 6.500 Irinnen machen davon jedes Jahr Gebrauch. In Frankreich wurde im Mai 2001 die Fristenregelung durch Abschaffung der Zwangsberatung und Verlängerung der Frist weiter gelockert. Großbritannien und Frankreich weisen vergleichsweise hohe Abtreibungsquoten von 16,6 bzw. 16,2 Abbrüchen pro 1.000 Frauen auf. Die höchste Quote nach Rußland hat Rumänien (51,6), die niedrigste die Schweiz (6,8); in Deutschland liegt die Quote bei 7,6.

Niederlande: Holland, seit Ende der Siebziger das westeuropäische Land mit der liberalsten Regelung, gilt Abtreibungsbefürwortern als Paradebeispiel für die Behauptung, eine weitgehende Freigabe führe zu weniger Schwangerschaftsabbrüchen. Niederländische Statistiken sind indes mit Vorsicht zu genießen, da Frühabbrüche bis zum 44. Tag - in der Regel 25 Prozent der Fälle - dort nicht als Abtreibungen gezählt und erfaßt werden.

Unerwähnt bleibt auch, daß die sinkenden Zahlen auch mit dem Rückgang des Abtreibungstourismus aus Nachbarländern zu tun hat, die inzwischen selbst liberale Regelungen eingeführt haben. Unter den Niederländerinnen selbst steigen die Abtreibungsziffern dagegen kontinuierlich.

Polen als bislang einziges Beispiel für ein Umdenken

Polen: Das einzige EU-Land, das in den letzten Jahren die Abtreibungsregelungen verschärft hat, ist das stark katholisch geprägte Polen. 1993 trat unter der bürgerlich-konservativen Solidarnosc-Regierung zunächst eine restriktive Gesetzgebung an die Stelle der freizügigen Regelung von 1956. Die von der postkommunistischen Regierung 1996 eingeführte Fristenregelung wurde nach massiver Kritik der Kirche und aus der Bevölkerung (3,5 Millionen Protestbriefe gingen bei der Regierung ein) und einer Klage von mehreren Senatoren vom Verfassungsgericht wieder aufgehoben.

Schwangerschaftsabbrüche dürfen in Polen nur noch in begründeten medizinischen Fällen, nach Vergewaltigung und bei vorgeburtlichen Schäden vorgenommen werden. Die Zahl der registrierten Abtreibungen sank von 59.417 im Jahr 1990 auf 250 im Jahr 1999. Befürchtete Nebenwirkungen wie mehr Gesundheitsschäden durch illegale Abtreibungen sind ausgeblieben, das Unrechtsempfinden scheint im selben Zeitraum dagegen gestiegen zu sein.

Allerdings: Zahlreiche Polinnen, die es sich finanziell leisten können, nutzen ihre Reisefreiheit und den inzwischen relativ stabilen Zloty, um in der Tschechei oder auch der Ukraine entsprechende Privat-Kliniken aufzusuchen.

Foto: Kundgebung von Lebensschützern in den USA: Trotz Protesten 1,3 Millionen Abtreibungen pro Jahr


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