© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/05 28. Januar 2005

Pankraz,
Bebel und der (nicht) gläserne Abgeordnete

Noch schlimmer als die undeklarierten Nebenbezüge deutscher Parlamentarier ist die öffentliche Diskussion, die jetzt darüber geführt wird. Es wimmelt darin von öligen Sonntagsreden und scheinheiligen Augenaufschlägen. Kein Abgeordneter, heißt es etwa, dürfe Lobbyist sein, denn er sei laut Verfassung und nach demokratischem Selbstverständnis nicht einer einzelnen Gruppe verantwortlich, nicht einmal seinen unmittelbaren Wählern im eigenen Wahlkreis, sondern einzig "dem Volk als ganzem". Deshalb ja auch sein Name: "Volksvertreter". Ein einmalig privilegierter, ein heiligmäßiger Status geradezu.

Nur die Besten, heißt es weiter, sollen Volksvertreter werden, und aus diesem Grund müßten die Diäten verdoppelt und verdreifacht werden, damit die Gier der armen Abgeordneten auf Nebentätigkeiten endlich aufhöre und sich "erstklassige Leute aus der Wirtschaft" für einen Abgeordnetensitz zu interessieren begännen. Da kommt das Tremolo also plötzlich ins Stottern. Nicht die hehre Arbeit "fürs Volk" als solche soll die Besten entflammen, vielmehr das dafür winkende Salär. Die Abgeordnetentätigkeit, so vernimmt man plötzlich, "ist doch ein Job wie jeder andere".

Originell der Beitrag von Hans Magnus Enzensberger zur Debatte. Die Abgeordneten, so seine Einschätzung, hätten tatsächlich Anspruch auf höheres Gehalt, und zwar aus Gründen der Entschädigung und des Mitleids. Ewig müßten sie daumendrehend in langweiligsten Sitzungen verharren und immer wieder ein und dasselbe anhören bzw. sagen. Das sei wahrhaft die Hölle, an sich keinem Manne von Geist und keiner Frau von Geschmack zumutbar. Und deshalb eben die Forderung: "Erhöht die Diäten und die steuerfreien Aufwandsentschädigungen und die Freifahrmöglichkeiten und die Altersversorgung unserer Abgeordneten! Sie leiden für uns alle und altern dabei früh."

Die Wahrheit sieht freilich etwas anders aus. Der durchschnittliche deutsche Bundestags- oder Landtagsabgeordnete von heute verdient weder Heiligsprechung noch allzu großes Bedauern. Sein Job ist vielleicht nicht so anregend wie der eines Schriftstellers, doch auf jeden Fall besser bezahlt als der eines Lagerverwalters und weniger risikoreich. Ähnlich dem Lagerverwalter benötigt der Durchschnittsabgeordnete keine kreative Gestaltungskraft, nur Aufmerksamkeit für die vorhandenen Bestände. Der Text der Gesetze, die er zu beschließen hat, stammt nicht von ihm und seinesgleichen, er kommt aus der Feder erstklassiger juristischer Fachkräfte ohne Mandat und muß folglich nur abgenickt bzw. fraktionsstark abgelehnt werden.

Der Erfolg eines Abgeordneten wächst nicht aus verrechenbarer Arbeitsfülle, viel eher aus seiner Kunst, durch Modulieren gängiger Phrasen interfraktionell und medial Aufmerksamkeit zu erregen und sich mittels Intrige und Katzbuckeln vor den jeweiligen Parteigewaltigen nach oben zu strampeln. Niemand muß dafür bemitleidet oder gar entschädigt werden. Vielen macht Phrasendreschen, Intrigieren und Katzbuckeln ausgesprochen Spaß.

Als Lohn winkt zudem, wenn der Weg nach oben gelingt, ein Leben "im Licht der Öffentlichkeit". Man erwirbt mediale Dauerpräsenz, Glanz und Gloria, wohl auch einigermaßen üppige Fleischtöpfe und vielleicht sogar einen Platz in den Geschichtsbüchern. Das letztere bleibt allerdings nur den allerobersten Spitzen der Politik vorbehalten. Im allgemeinen vergeht politischer Ruhm schnell, schneller als literarischer, künstlerischer oder wissenschaftlicher, da hat Enzensberger zweifellos recht.

Überhaupt sind die Schattenseiten erfolgreicher, im Dauerlicht der Öffentlichkeit absolvierter politischer Existenz beträchtlich, zumindest für sensible Gemüter. Der Spitzenpolitiker wird das, wogegen sich der deutsche Durchschnittsparlamentarier mit Händen und Füßen sträubt: gläsern (und damit auch ziemlich zerbrechlich). Nicht nur seine Einkommensverhältnisse werden offengelegt, sondern seine privaten Verhältnisse insgesamt, inklusive die seiner nächsten Verwandten und Freunde. Er steht unter Dauerbeobachtung, als habe sich der Verfassungsschutz an seine Fersen geheftet.

Und die Misere steigt ins Unermeßliche, wenn sich der Verfassungsschutz wirklich einmischt, d.h. wenn der Politiker die Schutzzone etablierter Parteien und eingeschliffener Konstellationen verläßt und das tut, was ihm angeblich zuallererst zusteht: nämlich einzig und allein seinem Gewissen gehorcht und um dieses Gewissens willen Auffassungen vertritt, die vom Zeitgeist verfemt sind. Wird er dann trotzdem gewählt, gibt es für die etablierten Kräfte kein Halten mehr.

Buchstäblich jede Gemeinheit ist erlaubt, sobald es hierzulande darum geht, politische Dissidenz zu bekämpfen, ihr die bürgerliche Basis zu entziehen, sie möglichst zu kriminalisieren und zum Verschwinden zu bringen. Dissidentische Politiker in Deutschland müssen die härtesten Nerven haben und außerdem vermögensmäßig völlig unabhängig sein; die derzeitige Diskussion um Diäten und Nebeneinkünfte darf sie auch nicht im mindesten attachieren. Sie leben faktisch ständig an der Front, wo sich selbst kleinste Fehltritte sofort in letale Kopfschüsse verwandeln.

Der durchschnittliche Abgeordnete bleibt von alledem natürlich vollkommen unberührt. Mag ihm zu Hause im eigenen Wahlkreis beim Gespräch "mit dem Stammtisch" auch manchmal dämmern, daß die Dissidenten vielleicht doch nicht so schief liegen im Hinblick auf "Volksmeinung", so weiß er doch automatisch, was sich ziemt. Mit "Populismus" will er nichts am Hut haben, vor allem sofern er ans Licht der Öffentlichkeit strebt oder wenigstens beim nächsten Mal wieder als Kandidat aufgestellt werden will.

Wie sagte schon der alte Bebel? "Die Funktionäre bleiben bei der Kasse." Die Abgeordneten auch.


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