© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/05 28. Januar 2005

Der Augenöffner
Jüngers Lektüren: Natur, Nomos und Individuum - Ernst Jünger und Hermann Löns / Erster Teil einer JF-Serie
Alexander Pschera

Jede Sehnsucht bezeichnet die Fremdheit des Ersehnten, denn wir vermögen uns nicht nach dem zu sehnen, was wir sind und was unverlierbar unser Eigentum ist". Mit diesen Worten eröffnet Friedrich Georg Jünger seinen langen Aufsatz über Hermann Löns in dem von seinem Bruder Ernst im Jahre 1928 herausgegebenen Sammelband "Die Unvergessenen", der denen gewidmet war, die "für Deutschlands Zukunft siegten und starben".

Die Passage ist bezeichnend für F. G. Jünger. Die Sehnsucht nach dem Verlorenen oder Verlierbaren, die Sehnsucht nach der Natur, nach der Kindheit - die mit der Heide-Landschaft Hermann Löns' untrennbar verbunden ist - charakterisieren sein Denken und seine Poesie. Und es ist typisch, daß Friedrich Georg Jünger in der Sehnsucht, das heißt in der sentimentalischen Rückschau auf eine noch intakte Naturverbundenheit, das wesentliche Merkmal des Autors Hermann Löns sieht - eines Autors, der mehr als die meisten durch den Gang des zwanzigsten Jahrhunderts an den Rand der öffentlichen Wahrnehmung gedrängt wurde, obgleich viele seiner Verse und Bilder immer noch Allgemeingut sind.

Ganz anders ist die Erinnerung Ernst Jüngers an den Dichter der Heide, an den Autor des "Braunen Buches" und des "Werwolfs". In einem Eintrag vom 25. Dezember 1980 notiert Ernst Jünger in dem Tagebuch "Siebzig verweht II", Löns sei für seinen Bruder und ihn ein "Augenöffner" gewesen, und das im ganz unmittelbaren Sinne, beim Beobachten der Tier- und Pflanzenwelt der Rehburger Flur in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg.

Dabei ist zweierlei bemerkenswert: Löns wird Ernst Jünger erstens nicht zur Chiffre für eine verlorene Einheit und dem Leiden an ihr, sondern Löns lenkt ihn auf das Gegenwärtige hin, er verweist ihn auf die mannigfache Welt der Erscheinungen, er entschlüsselt sie, er macht die Welt lesbar. Der dichterische Abdruck eines solchen Gegenwartsgefühls ist das Tagebuch - so wie das "Erinnerungsbuch", dies der Untertitel der zweiteiligen Autobiographie Friedrich Georgs, zur dichterisch gestalteten Form einer retrospektiven Wirklichkeitserklärung wird.

Löns machte Jünger die Welt lesbar

Zweitens zeigt sich hier aber auch, daß Wirklichkeit Ernst Jünger erst vermittelt durch das Medium des Textes zugänglich wird. Sie öffnet ihm die Augen für das, was außerhalb der Buchdeckel geschieht. Die Lektüre der Dichtungen Hermann Löns', seiner Tierstücke und Heidebilder, machen Ernst Jünger die Natur, die sein Elternhaus umgibt, wiedererkennbar - und nicht umgekehrt. Der Text weist den Weg, die Bilder der Dichtung sind die Zeichen, die die Welt deuten.

Diese "Deutung" allerdings läßt sich allein aus dem Eintrag vom 25. Dezember 1980 nicht ableiten. Dazu muß man auf ein anderes Löns-Notat zurückgreifen, das in einem wesentlich anderen Zusammenhang steht. So heißt es in den "Kaukasischen Aufzeichnungen" am 23. Dezember 1942: "Lektüre: 'Der Werwolf' von Löns, den ich seit meiner Kindheit nicht mehr las. Ich fand ihn hier in einer Bunkerbibliothek. Trotz der vergröbernden und holzschnittartigen Manier führt ein Zufluß von alten Sagas, von altem Nomos durch die Schilderung." Es sei dahingestellt, ob der Gegensatz, den Jünger hier aufbaut, das zum Ausdruck bringt, was er sagen will ("Der Text hat mehr Substanz, als es scheint").

Wichtiger ist, daß Löns hier nicht als der "Augenöffner" zitiert wird, sondern daß Jünger über ihn Kontakt aufnimmt mit der Welt der isländischen Sagas, mit der Welt der Gesetzmäßigkeiten und Gesetze, des Hergebrachten, mit der Erde. Im Kontext des Tagebucheintrags - Jüngers Aufenthalt an der Ostfront und die schmerzhafte Konfrontation mit einer anderen Form des Krieges als in Frankreich - wird hier eine Rückkopplung an die Kräfte Gaias, der Göttin der Erde, gesucht, die der Text Hermann Löns' zumindest zu vermitteln imstande ist. Das Erlebnis an der Ostfront ordnet sich ein, so gibt das Zitat an dieser Stelle zu erkennen, in die Abfolge der Erdzeitalter, in den Titanismus. In diesem Bezugssystem sucht Jünger vielleicht keine Erklärung, aber zumindest eine epochale Deutung des Gesehenen. Nur so kann es ihm gelingen, seine Haltung aufrechtzuerhalten.

Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man den Tagebucheintrag aus "Jahre der Okkupation" vom 15. Mai 1945 hinzunimmt, in dem Jünger von Plünderungen und Gewalttaten der einrückenden Roten Armee berichtet und schließt: "So kommt es zu Schauspielen, wie sie in diesem Landstrich seit über dreihundet Jahren unbekannt geworden sind - seit den Tagen der 'Schwedischen Jagd' und der Wirren, die Löns im 'Werwolf'' schilderte".

Die Figur der Schleife tritt hier ins Bild und damit die "höhere Art, sich den empirischen Verhältnissen zu entziehen", wie es im "Abenteuerlichen Herzen" heißt. Die holzschnittartigen Konturen des "Werwolfs" geben dem eigenen Erleben die Haltung zurück, indem sie das Gesehene auf Archetypen rückführbar machen. Löns öffnet Ernst Jünger nicht nur die Augen für die Vielheit der natürlichen Gestalt, er liefert ihm darüber hinaus auch Bilder außerhalb des Zeitstroms, die Geschichte transparent machen und das eigene Erleben strukturieren.

Doch nachdem der Spuk vorbei ist, kehren auch diese Bilder wieder in die Erde zurück. Schon am 14. September1945, also nur vier Monate nach dem zweiten "Werwolf"-Eintrag, berührt Jünger in einem großen, komplexen Notat wieder Löns. Zunächst geht es um andere Themen und Motive, um anekdotenbildende Kräfte in der Geschichte, um die Gegenwart des Mythischen, die Beherrschung der dynamischen Welt und um die Suche nach dem Mittelpunkt, wie sie literarisch von Edgar Allan Poe und Joseph Conrad unternommen wurde. Und dann, nach einem Absatz, heißt es lapidar: "Nachmittags gegraben; die frühen Früchte räumen schon das Beet. Dann mit dem Rad in die einsamen Wälder um Oldhorst. Die alten Wacholder regen besonders zum Träumen an. Dort liegen die Jagdgründe von Hermann Löns."

Die "Jagdgründe" - in dieser Vokabel verschmilzt das Jenseits ("die ewigen Jagdgründe") mit dem Augenblick der Tat. Hier kommt die Bewegung zur Ruhe. Es kehrt Frieden ein. Auf diesem langen Weg von erster Naturerkenntnis, Konfrontation mit dem Nomos der Erde und individueller Aneignung dieses Gesetzes ("Nachmittags gegraben") hat Hermann Löns Ernst Jünger begleitet.

 

Zeit seines Lebens war der Schriftsteller Ernst Jünger (1895-1998) ein großer Leser. Mehr noch: Lektüre stellte einen Teil seiner Existenz dar. Spuren dieses Lesens durchziehen sein Werk - von den "Stahlgewittern" bis zu "Siebzig verweht V". Um Jünger zu verstehen, muß man diesen Spuren folgen, leiten sie doch zu Bedeutungsräumen, die hinter dem Text verborgen liegen. Jünger lesen heißt also "Spuren-Lesen". Diese JF-Serie versucht, einige Fährten aufzunehmen und ansatzweise zu entziffern. Und sie will natürlich auch zur Lektüre von Jüngers Lektüren anregen.

 

Foto: Hermann Löns (1866-1914): Er vermittelte Jünger den Zugang zur Welt der isländischen Sagas, zu den Kräften Gaias, der Göttin der Erde

 

Dr. Alexander Pschera ist Germanist und arbeitet derzeit an mehreren Ernst-Jünger-Projekten.


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