© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/05 28. Januar 2005

Das Symbol für einen Massenmord
Vor sechzig Jahren wurde Auschwitz von der Roten Armee befreit: Unverfänglichkeit über den Schreckensort dominiert auch gegenwärtige Diskussionen selten
Stefan Scheil

Zu Theodor W. Adornos bekanntesten Sätzen gehört die Behauptung, nach Auschwitz könne man kein Gedicht mehr schreiben. Als Johannes Groß dies vor Jahren mit der ihm eigenen Bissigkeit konterte und treffsicher feststellte, die Wahrheit sei die, daß Adorno auch vor Auschwitz kein Gedicht habe schreiben können, da hatte er zunächst die spontanen Lacher auf seiner Seite. Mit seinem apodiktischen Tonfall hatte Adorno den Bogen des Erträglichen ersichtlich überspannt, eine Spannung, die mit dem Bekanntheitsgrad des Zitats und dem zunehmenden Zeitabstand wuchs und sich wie manch anderer Fehlgriff am besten mittels Humor lösen ließ. Dann würgten die eben noch leicht Gestimmten ihre unkorrekte Heiterkeit jedoch schnell herunter. Groß wurde heftig angegriffen. Das sei geschmacklos, war zu lesen, und eine Publizistin schrieb gar von "Entweihung", womit nun seinerseits die Funktion angedeutet war, die dem oberschlesischen Ort damals bereits zukam, die des quasireligiösen Symbols einer Art zivilen Glaubensgemeinschaft.

Informationen der Alliierten waren teilweise recht präzise

Dieser Tage jährt sich der Einmarsch der Roten Armee in Auschwitz zum sechzigsten Mal. Am 27. Januar 1945 erreichten sowjetische Truppen dieses Lager, über dessen Funktion den Alliierten bereits seit mehr als zwei Jahren immer wieder spektakuläre Informationen vorlagen. Sie waren teilweise recht präzise, wie sich im nachhinein herausstellte, wirkten dann zugleich abenteuerlich erfunden und waren es in manchen Passagen auch. Von dreitausend Toten am Tag in Auschwitz sprach für diese Zeit zutreffend ein Bericht des polnischen Untergrunds vom März 1943, dann aber von unglaubwürdigen Hinrichtungsarten wie Hochspannungskammern und Hammerluftsystemen. Letztlich erwähnten sie aber auch Erschießungen und Gaskammern. Dabei war Auschwitz nur ein Ort unter mehreren genannten. Über die Existenz anderer Lager wie etwa Treblinka, das manche für das Zentrum des Geschehens hielten, wurde ebenfalls berichtet. Dies alles stieß naturgemäß auf große Skepsis bei den Verantwortlichen im Westen, selbst bei denen, die über alle Quellen verfügten und sogar Zugang zu entschlüsselten deutschen Meldungen der Polizei und der SS hatten. "Ich bin überzeugt, daß wir einen Fehler machen, wenn wir dieser Gaskammergeschichte offiziell Glauben schenken", äußerte sich Victor Cavendish-Bentinck, Vorsitzender des britischen Geheimdienstausschusses, im Sommer 1943.

Was von der britischen Regierung offiziell nicht anerkannt wurde, hatte bis dahin allerdings schon gelegentlich den Weg in die Schlagzeilen der Weltpresse gefunden. Hitler hätte die Ermordung von vier Millionen Juden befohlen, titelte die New York Herald Tribune im November 1942. Andere amerikanische Zeitungen griffen die Meldung jedoch kaum auf, den meisten großen Blättern war sie jedenfalls keine Titelgeschichte wert. Trotz allem waren die europäischen Affären zu weit weg. Mehr Anklang fanden solche Meldungen in Europa selbst, wo sich besorgte Bürger in Briefen an die britische Regierung wandten, ob man nichts tun könne oder wolle. Anfang 1943 gingen in London täglich entsprechende Schreiben ein, was aber nur zu ausweichenden Stellungnahmen führte. Die vorgeschlagene Evakuierung der jüdischen Bevölkerung in neutrale Länder wurde in Regierungskreisen ebenso abgelehnt wie militärische Angriffe zur Behinderung der Mordaktionen. Die direkte Aufforderung an den britischen Außenminister Anthony Eden, er solle öffentlich von Hitler verlangen, den europäischen Juden das Verlassen des deutsch kontrollierten Gebiets zu gestatten, wies Eden als "in absurdester Weise unmöglich" zurück. Zu den Elementen der "dreifachen Falle", in die der israelische Historiker Shlomo Aronson das europäische Judentum geraten sah, gehörte auch die Politik der Alliierten.

Belzec und Treblinka ebenso Symbol industriellen Mordes

Mit dem Vormarsch der Roten Armee in Ostmitteleuropa und der sich abzeichnenden Niederlage Deutschlands gerieten die bisher vorliegenden Informationen über den Mord an den Juden in ein Feld politischer Instrumentalisierung. Bereits Golo Mann hat vor mehr vierzig Jahren darauf verwiesen, daß eigentlich nicht Auschwitz als Symbol für den industriellen Massenmord stehen sollte, sondern eben Lager wie Belzec und Treblinka. Tatsächlich treten diese Orte bis heute im öffentlichen Bewußtsein in ihrer Bekanntheit aber deutlich hinter Auschwitz zurück. Wie für manches andere wird man auch hier nicht fehlgehen, wenn man zur Erklärung auf Spätfolgen des Nürnberger Prozesses und geschichtspolitische Entscheidungen innerhalb des real existierenden Sozialismus verweist. Hier wurde Auschwitz frühzeitig als Symbol entdeckt und schließlich per Gesetz als der entscheidende Ort des millionenfachen Mordes festgeschrieben.

Mit der Abmontierung der Gedenktafel für die Zahl der Opfer fand ein zäher polnisch-jüdischen Streit um die Deutungshoheit über Auschwitz 1990 seinen bizarren Höhepunkt. Mit der Begründung, man wolle zeigen, "wer in unserem Vaterland die Herren sind", wurde der Gedenkort Auschwitz Ende der neunziger Jahre zum denkbar ungeeigneten Gegenstand einer Polonisierungskampagne, mit der frühere Ergebnisse polnischer Bildungspolitik festgeschrieben werden sollten. Sie hatten dazu geführt, daß in ersten Meinungsumfragen nach den Wendejahren 1989/90 ganze acht Prozent der befragten Polen den Ort Auschwitz als Todesort jüdischer Menschen kannten, ihn aber gut die Hälfte der Befragten als Hinrichtungsstätte vorwiegend für christliche Polen deutete.

Selbst unter Zurechtrückung der Maßstäbe und nach Aussortierung der gröbsten Geschichtsklittereien ist es eine schwierige Aufgabe, das öffentliche Gedenken an einem Ort wie diesem angemessen zu gestalten, ohne in leere Rituale zu verfallen, geschichtspolitischen Aberwitz zu betreiben oder eine Kombination aus beidem zu erzeugen. Eine politische Öffentlichkeit, deren Kommunikation sich bereits zu unverfänglichen Themen in einer fast beliebigen Kombination von Schlagworten erschöpft, kann dies kaum leisten. Wer die Reden zu diesen Anlässen verfolgt, der wird daher immer wieder den Eindruck haben, die Redner seien von einem Gefühl für die Unangemessenheit ihres Vorgehens nicht frei. "Um so besser, die einigermaßen beliebige Verwendung von Begriffen wie Auschwitz und Holocaust ist schon lange unerträglich", sagte Johannes Groß nicht ohne Genugtuung, nachdem die Aufregung über seine Adorno-Äußerung hohe Wellen zu schlagen begonnen hatte. Man wird nicht sagen können, es hätte sich daran seitdem etwas Substantielles geändert.


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