© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/05 11. Februar 2005

Angst vor einem Denkzettel des Volkes
Europäische Union: Die EU-Verfassung könnte bei den Referenden in Polen und Großbritannien scheitern / Bislang nur von drei Ländern ratifiziert
Martin Schmidt

Während bei zwei Dritteln der 25 EU-Mitgliedsländer die Zustimmung der Parlamente genügt, damit die umstrittene europäische Verfassung bis zum anvisierten Termin 1. November 2006 in Kraft treten kann, befragen die anderen zehn Länder das Volk. Und dieses sieht die Angelegenheit deutlich kritischer und wird die Referenden auch dazu nutzen, andere fragwürdige europapolitische Weichenstellungen, etwa für den Beitritt der Türkei, abzustrafen.

Während man in Brüssel und Straßburg der am 20. Februar anstehenden ersten Volksabstimmung in Spanien noch zuversichtlich entgegenblickt, erwartet die Verfassungsbefürworter vor allem in Frankreich (im Juni) und Portugal, mehr noch in Großbritannien (wohl erst 2006) und Polen eine Zitterpartie. Während das Referendum in Dänemark nicht bindend ist und sich die Regierungen Spaniens, Portugals und der Tschechei bislang in dieser Beziehung nicht festgelegt haben, kündigten die Regierungen der Niederlande, Luxemburgs und Großbritanniens an, sich an das Votum des Volkes halten zu wollen. In Irland sowie bei den Wackelkandidaten Frankreich und Polen ist der Ausgang der dortigen Referenden definitiv entscheidend für das Sein oder Nicht-Sein der EU-Verfassung.

Mindestbeteiligung von 50 Prozent der Wähler in Polen

Gerade Polen und das geplante europäische Grundgesetz ließen sich bisher nur sehr schwer auf einen Nenner bringen. Die jüngste Panne in Gestalt erheblicher Übersetzungsfehler des Verfassungstextes ins Polnische ist hierfür geradezu symptomatisch.

Wie die Zeitung Rzeczpospolita am 19. Januar berichtete, seien die Fehler derart schwerwiegend, daß - um mit Bronislaw Komorowski, Abgeordneter der konservativ-liberalen Bürgerplattform (PO) und Leiter einer Expertengruppe zur Korrektur der Übersetzung, zu sprechen - es mindestens zu einer monatelangen Verzögerung der Ratifizierung durch das polnische Parlament kommen könne. Denn: "Der Sejm kann nicht über Verfassungsregelungen debattieren, die der Originalfassung widersprechen, und zwar in den wichtigsten Punkten", zumal sich in diesem Fall sowohl die EU-freundliche PO als auch ein Großteil der EU-feindlichen Opposition querstellen würde.

Wie bedeutsam die Übersetzungsfehler sind, mag ein Beispiel zeigen: Während der Originaltext in bezug auf die Wahl eines Komitees für Sozialpolitik eine einfache Mehrheit vorsieht, ist in der offiziellen polnischen Fassung von einer "qualifizierten Mehrheit" der Mitgliedsländer die Rede. Letzteres würde dem größten der ostmitteleuropäischen EU-Staaten nur eine Stimme zubilligen, während Polen mit der ursprünglichen Fassung - dank eines komplizierten Berechnungssystems - deutlich mehr Einfluß bekäme.

Ob das Generalsekretariat des Rates der Europäischen Union oder das mit diesem zusammenarbeitende, dem Warschauer Außenministerium unterstellte polnische Amt des Komitees für Europäische Integration die Schlamperei zu verantworten hat, ist bislang unklar. Auf jeden Fall ist der fehlerhafte Wortlaut bereits im EU-Amtsblatt veröffentlicht worden, was eine Korrektur zusätzlich erschwert.

Eigentlich wollte die Regierung die EU-Verfassung Anfang Februar zur Beratung an den Sejm übergeben und die geplante Volksabstimmung über das Vorhaben parallel zur Präsidentschaftswahl im Frühjahr 2006 abhalten. Damit sollte nicht zuletzt die erforderliche Mindestbeteiligung von 50 Prozent der Wahlberechtigten gewährleistet werden. Dieser Zeitplan ließ sich nun nicht mehr einhalten, so daß die Umsetzung des umstrittenen Grundgesetzes mehr denn je in den Sternen steht.

Die zahlreichen polnischen Gegner des derzeit wohl wichtigsten Brüsseler Projekts können sich freuen. Wie stark diese nicht nur im Sejm, sondern auch im Europaparlament vertreten sind, zeigte sich zuletzt am 12. Januar bei der Abstimmung der Straßburger Abgeordneten über die Verfassung, wobei polnische Vertreter neben britischen und tschechischen die größte nationale Gruppen von Nein-Sagern stellten.

Man erinnere sich: Bereits Ende 2003 drohte das Vorhaben an den polnischen (und spanischen, aber auch britischen oder irischen) Einwänden zu scheitern. Im Mittelpunkt der Diskussion stand damals die besonders von Paris und Berlin gewünschte Einführung von Mehrheitsentscheidungen in Form der "doppelten Mehrheit", also der Möglichkeit bindender Entscheidungen des EU-Ministerrates bei einer Zustimmung von 50 Prozent der Mitgliedsstaaten und mindestens 60 Prozent der vertretenen Bevölkerungen (der geltende Vertrag von Nizza ermöglicht bereits ein Veto von Staatengruppen, die gemeinsam mindestens 28 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren). Auch der vorgesehene EU-Außenminister oder der Verzicht auf einen ausdrücklichen Gottesbezug sorgen im stark national ausgerichteten und noch immer tief katholischen Polen für Unmut.

Während die bundesdeutsche Politik schon im Zuge der Vorarbeiten des EU-Konvents auf bestehende Einwände verzichtet hatte und beispielsweise vom ursprünglich geforderten Vetorecht in Zuwanderungsfragen abrückte, orientierten sich die polnischen Volksvertreter hartnäckig, bisweilen starrköpfig an den nationalen Interessen. Nachdem der Brüsseler EU-Gipfel Mitte Dezember 2003 an der Furcht vor einer angeblichen Dominanz der einwohnerstärksten Länder Deutschland und Frankreich gescheitert war (die polnische Seite prägte damals die Losung "Nizza oder Tod!"), sahen sich die Befürworter des Verfassungswerkes zum Kompromiß gezwungen.

Schicksalhaft für die Zukunft der Europäischen Union

Andernfalls schien ihr Traum von einem europäischen Superstaat ausgeträumt. Die neue Zauberformel hieß "55/55", sprich eine für Entscheidungen des Ministerrates künftig jeweils nötige 55prozentige Majorität der Mitgliedsstaaten und der repräsentierten Gesamtbevölkerung.

Im Juni 2004 gelang es dann - vor allem dank des Wahlsieges der zum Nachgeben bereiten Sozialisten in Spanien -, den Streit auf dieser Grundlage beizulegen. Doch nur wenig später, bei den Europawahlen desselben Monats, folgte für die Befürworter der EU-Verfassung der nächste Rückschlag: Die EU-skeptischen oder gar -feindlichen Kräfte kamen in mehreren EU-Ländern - insbesondere aber in Polen - zu bemerkenswerten Erfolgen.

Und die nächsten Gefährdungen für das Brüsseler Mega-Projekt kommen mit Sicherheit. Denn längst nicht überall wird sich die Ratifizierung der gemeinsamen Verfassung derart unproblematisch gestalten wie in Litauen und Ungarn, wo die Parlamente den Vertrag schon Ende letzten Jahres absegneten. Auch in Slowenien, wo am 1. Februar das Parlament mit großer Mehrheit sein Ja-Wort gab, wurde das Volk ebensowenig nach seiner Meinung befragt wie in Deutschland.

Die Jahre 2005 und 2006 werden auf jeden Fall schicksalhaft für die Zukunft der Europäischen Union, entscheiden sie doch ganz wesentlich darüber, ob sich der einstige Staatenbund eines "Europas der Vaterländer" endgültig in einen immer zentralistischer werdenden Bundesstaat verwandelt.


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