© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/05 25. Februar 2005

Politik mit hohem Risiko
USA: Präsident George W. Bush will in seiner zweiten Amtszeit der Weltgeschichte endgültig seinen Stempel aufdrücken
Elliot Neaman

Der US-Präsident besucht Europa - mit enormen Aufwand empfangen von den wichtigsten EU-Staats- und Regierungschefs, begleitet von den üblichen Protesten und meist kritischen Kommentaren in den europäischen Medien. Trotz allem - eins steht jetzt schon fest: George W. Bush wird nicht als mittelmäßiger Präsident in die Geschichtsbücher eingehen. Zu zahlreich sind die Risiken, die er schon eingegangen ist oder noch einzugehen plant.

Man wird sich an ihn entweder als kühnen Visionär erinnern, der den islamischen Faschismus verscheuchte, die politische Landkarte des Mittleren Ostens veränderte und Amerika mit dem Ende des New Deal in eine "Eigentümer-Gesellschaft" verwandelte - oder aber als Zocker, der viele Menschenleben und ein Vermögen an einen schlecht geplanten und undefinierten "Krieg gegen den Terror" verschwendete, im Irak ein Fiasko anrichtete und der amerikanischen Wirtschaft einen Berg Schulden, soziale Ungerechtigkeit und langfristig den Untergang bescherte.

Keine konservative Politik im traditionellen Sinne

Beides ist möglich, aber niemand kann ihm ernsthaft vorwerfen, eine sichere, vorsichtige, schwerfällige oder in irgendeinem traditionellen Sinne "konservative" Politik betrieben zu haben. Die meisten wiedergewählten Präsidenten des letzten Jahrhunderts - Roosevelt genauso wie Reagan und Clinton - konzentrierten sich in ihrer ersten Amtsperiode auf die Innenpolitik und ließen sich in der zweiten in außenpolitische Angelegenheiten verwickeln. Bush hat diese Reihenfolge umgedreht.

Dies ist insofern von Bedeutung, als seit 1951 ein US-Präsident in seiner zweiten Amtszeit ungefähr zwei Jahre lang Zeit hat, seine Anliegen zu forcieren. Danach schmälert die Tatsache, daß er nicht noch einmal wiedergewählt werden kann, seine Macht und seinen Einfluß auf die Legislative. Bush weiß das natürlich und bemüht sich nach Kräften, Gesetzesentwürfe so schnell wie möglich durchzudrücken und ein paar außenpolitische Erfolge zu erringen. In den ersten vier Jahren seiner Präsidentschaft blieb Bush neben den Kriegen in Afghanistan und Irak wenig Zeit für innenpolitische Belange.

Seine "State of the Union"-Rede vom 2. Februar hat jedoch gezeigt, daß er nun soweit ist, eine ganze Reihe ehrgeiziger Vorschläge auf die politische Tagesordnung zu setzen. Kann er sie durchsetzen, so hätte dies tiefgreifende Veränderungen der US-Gesellschaft zur Folge. Bush hat signalisiert, was er vorhat. Wie stehen seine Erfolgsaussichten?

In der zweiten Antrittsrede und der Ansprache zum Zustand der Nation steckte Bush den groben Rahmen seiner Zielsetzungen ab. Während er in der ersten Amtszeit damit beschäftigt war, alles auseinanderzunehmen (Afghanistan, Irak, europäische Verbündete, Regierungsbehörden), scheint er in der zweiten der Geschichte seinen Stempel aufdrücken zu wollen, indem er neue Sachlagen und neue Fakten schafft. Bushs ehrgeizigste innenpolitische Initiative sieht eine Reform des amerikanischen Sozialversicherungssystems (Social Security) vor (mehr dazu in der nächsten Ausgabe der JF).

Außenpolitisch wird die Umgestaltung des Mittleren Ostens zweifelsfrei zu den Hauptanliegen der Regierung zählen. Auch hier setzt Bush alles darauf, Erfolge in einem Unterfangen zu erzielen, an dem schon viele US-Präsidenten gescheitert sind. In seiner Antrittsrede benutzte Bush 27 Mal das Wort "Freiheit". Zwar ging er nicht ins Detail, doch darf als gesichert gelten, daß er ernst machen will mit einer wilsonischen Agenda, die Demokratie, Entwicklung, freie Marktwirtschaft und Freihandel in den letzten Winkel der Erde bringen möchte. Besonders ist ihm an Reformen im Mittleren Osten gelegen, den er als Nährboden des antiamerikanischen Terrorismus sieht.

Im Gegensatz zu den Realpolitikern, die Bushs grandiose Pläne für idealistisch und undurchführbar halten, versteht sich die außenpolitische Mannschaft um Bush keineswegs als Hüter des Status quo. Statt dessen wollen sie Kombattanten in einem globalen ideologischen und Kulturkampf sein. Bush will Winston Churchill oder Harry Truman sein, nicht Herbert Hoover, und er wird entweder Geschichte machen oder aber als Versager im Gedächtnis bleiben. Die Herausforderungen, denen er sich außenpolitisch gegenübersieht, sind gewaltig. Am ehesten läßt sich Bushs Bestreben, die autoritären Regime des Mittleren Ostens zu reformieren, noch mit dem Bemühen um den Sturz des Kommunismus Ende der achtziger Jahre vergleichen.

Während die USA damals jedoch auf die insgeheime und oft auch offene Unterstützung der Bevölkerungen osteuropäischer Länder unter sowjetischer Herrschaft zählen konnten, sind sie heute in den meisten Staaten des Mittleren Ostens höchst unbeliebt. Von einigen interessanten Ausnahmen - die kleinen Golfstaaten und überraschenderweise der Iran, wo das Mullah-Regime vor allem bei jungen Menschen verhaßt ist - abgesehen, gelten die USA allgemein als heuchlerische Imperialisten, weil Bush hochtrabend von Demokratie redet, seine Regierung aber etwa in Ägypten und Saudi-Arabien autoritäre Regime militärisch und finanziell unterstützt. Daß die Unterstützung Israels als kriminell betrachtet wird, braucht man nicht eigens zu betonen.

Umgestaltung des Mittleren Ostens hat Priorität

Die Europäer sehen es nicht viel anders. Doch stehen den kolossalen Schwierigkeiten kolossale Chancen gegenüber. Große Erwartungen werden in die neue Außenministerin gesetzt, der man im Gegensatz zu Colin Powell nachsagt, sie habe Einfluß auf den Präsidenten und könne auf ihre Worte daher tatsächlich Taten folgen lassen.

Am vielversprechendsten sind natürlich die sich anbahnenden Friedensverhandlungen zwischen dem Palästinenserpräsidenten Mahmoud Abbas (Abu Mazen) und dem israelischen Premier Ariel Scharon. Arafats Tod, die Wahl Abbas' mit großer Mehrheit und Scharons Bereitschaft, Land gegen Frieden zu tauschen, sind Faktoren, die im Zusammenspiel endlich zu einer dauerhaften Einigung zwischen Israelis und Palästinensern mitsamt den sich daraus ergebenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Vorteilen für beide Seiten führen könnten. Scharon ist es gelungen, seine Likud-Partei von der großisraelischen Ideologie der Vergangenheit abzubringen und viele israelische Rechte dazu zu bewegen, den demographischen Gegebenheiten Rechnung zu tragen.

Skeptiker sowohl in arabischen Ländern als auch in Europa halten Scharons späte Bekehrung zum Friedensstifter für eine List. Er werde Gaza preisgeben, wird behauptet, um das Westjordanland um so stärker in den Schwitzkasten zu nehmen. In einem Interview, das Aufsehen erregte und Scharon in Erklärungsnot brachte, sagte dessen enger Berater Dov Weissglas der israelischen Zeitung Ha'aretz, der Rückzug aus Gaza sei "in Wirklichkeit Formaldehyd", mit anderen Worten, Scharon schiebe damit den Palästinensern die Verantwortung für Gaza zu und verringere den Druck auf Israel, Frieden zu schließen.

Vor Arafats Tod mag das zugetroffen haben, doch wenn Scharon Abbas inzwischen für fähig hält, die Terrororganisationen Hamas, Al-Aqsa-Brigaden und Islamischen Jihad unter Kontrolle zu halten, könnte er eher als der starke Mann in die Geschichte eingehen, der endlich Sicherheit nach Israel brachte, statt als ein zweiter Arafat, der das Gelobte Land stets vor Augen hatte, ohne je dort anzukommen. Die Palästinenser mißtrauen Scharon zwar, doch spricht die Tatsache, daß sie zu 62 Prozent für Abbas stimmten - wohlwissend, daß er mit Israel zu verhandeln gedachte - dafür, daß viele unter ihnen ebenfalls eine friedliche Lösung des Konflikts befürworten.

Die USA spielen bei alledem eine ambivalente Rolle. Einerseits gingen Condoleezza Rices Israelbesuch am 6. und 7. Februar - der in vorbehaltlichen Einigungen zwischen Israel und den Palästinenserbehörden gipfelte, zu denen auch ein Waffenstillstand zählt - strenge Ermahnungen sowohl an Scharon (bezüglich jüdischer Siedlungen) wie an Abbas (bezüglich der Gewalt gegen Israel) voraus. Nach langer Unterbrechung zeigen sich die USA bereit, politisch und finanziell in diesen schwer vorstellbaren Frieden zu investieren. Andererseits sind die Israelis und Palästinenser eindeutig die Hauptverhandlungspartner, während Ägypten und Jordanien nur Nebenrollen spielen und die USA nur als Beobachter auftreten.

Nicht weniger ambivalent ist ihre Rolle im Irak. Seit der Wahl vom 31. Januar haben sich die USA politisch zurückgezogen und zugleich ihre Sicherheitsmaßnahmen sowie den Kampf gegen Aufständische verschärft. Der Joker bei der zukünftigen Entwicklung ist die Frage, ob die regierende Schia-Koalition eine laizistische Verfassung schaffen wird, die sowohl kurdischen Autonomieforderungen entgegenkommt als auch die gemäßigten Sunniten in den politischen Prozeß einbindet.

Die Aufständischen haben selbst im "sunnitischen Dreieck", wo sie die Menschen zwar einschüchtern, aber nicht für sich gewinnen konnten, wenig Rückhalt in der Bevölkerung. Solange die Verfassungsfragen jedoch ungelöst bleiben, werden sich Extremisten die Ängste und Ungewißheiten verschiedener Gruppen zunutze machen.

Selbst die Europäer sehen langsam ein, daß ihre Kassandrarufe bezüglich des US-Versagens im Irak voreilig waren. Vor allem in Europa sagen manche Defätisten voraus, daß das US-Demokratisierungsprojekt im Irak scheitern muß, weil die Schia-Koalition eine Theokratie nach iranischem Vorbild und unter indirekter iranischer Kontrolle aufbauen wird. Alles, was Großajatollah al-Sistani zur Rolle der Geistlichen in der Politik geäußert hat, spricht gegen eine solche Interpretation. Zudem straften die Iraker die Pessimisten Lügen, indem sie massenhaft zur Wahl gingen.

Daß sie nach den Unruhen der letzten zwei Jahre eine neue autoritäre Regierung akzeptieren würden, scheint unwahrscheinlich. Schließlich sind allerlei Spekulationen über die Intention der USA im Iran angestellt worden. Seymour Herschs New Yorker-Artikel, in dem er berichtete, CIA-Agenten erkundeten im Iran potentielle militärische Ziele, wurde in der europäischen Presse geradezu hysterisch aufgenommen. In den USA nahm man ihn zur Kenntnis, stellte jedoch fest, daß er spekulativ und wenig schlüssig war. Hersch ist ein großartiger investigativer Journalist, doch dieser Artikel war schlampig geschrieben, als sei er aus einer Reihe anonymer und teilweise widersprüchlicher Quellen zusammengeschustert. Die Nachricht, daß CIA-Agenten im Iran nukleare Anlagen ausspähten, ist nicht wirklich neu, und es scheint sogar möglich, daß die CIA absichtlich Informationen an Hersch durchsickern ließ. Warum? Weil im Iran politisches Theater im großen Stil aufgeführt wird.

Glaube an Analogien zum Sturz des Kommunismus

Sowohl der Iran als auch die USA kurbeln den Druck an, dabei wissen beide, daß eine militärische Konfrontation unwahrscheinlich ist. Bush und Rice wollen der iranischen Bevölkerung signalisieren, daß den USA ein Regimewechsel von innen am liebsten wäre, während der Iran versucht, anderen Staaten der Region zu demonstrieren, daß er sich nicht von den USA ins Bockshorn jagen läßt. Nicht zuletzt weil Irans Atomwaffen in die Hände von Gruppen wie Hisbollah fallen könnten, beunruhigt das iranische Atomwaffenprogramm die USA natürlich, aber ihre Chancen auf einen erfolgreichen Militärschlag sind gering. Die nuklearen Anlagen befinden sich unter der Erde und über das ganze Land verteilt, außerdem hat das amerikanische Militär im Irak alle Hände voll zu tun. Bei ihrem Besuch in London äußerte Rice sich endlich definitiv und sagte, ein Militärschlag sei "derzeit nicht geplant". Die Europäer fallen leichtgläubig auf die iranische Darstellung des Konflikts herein und meinen, mit wirtschaftlichen Anreizen ließen sich die Iraner von ihrem Atomwaffenprogramm abbringen.

Die Amerikaner dagegen haben aus der Erfahrung gelernt und wissen, daß Zuckerbrot nur wirkt, wenn die Peitsche sehr lang und bedrohlich ist. Ähnlich wie bei Nordkorea und anderen Konfliktherden hofft Bush mit diplomatischem Druck, unnachgiebiger Rhetorik, Gewaltandrohung und in Aussicht gestellten Belohnungen Ergebnisse zu erzielen. Rice hat zu Protokoll gegeben, sie glaube an "Optimalziele, selbst wenn sie momentan politisch unerreichbar erscheinen".

Voller Einsatz für einen Regimewechsel im Iran

Den ängstlicheren Europäern mag das allzu unverfroren klingen, die Amerikaner sind damit in der Vergangenheit gut gefahren. In "Sternstunde der Diplomatie", ihrem Buch über die deutsche Wiedervereinigung, schrieb Rice 1995, nicht etwa Konsensbildung oder gegenseitiges "Geben und Nehmen" habe die deutsche Einheit herbeigeführt, die Zwei-plus-Vier-Verträge seien in Wirklichkeit Augenwischerei gewesen.

Die USA ignorierten damals das Mißtrauen der Sowjets, Franzosen und Briten und setzten die deutsche Wiedervereinigung durch. Wie der Kampf gegen Faschismus und Kommunismus im 20. Jahrhundert gezeigt hat, bergen "Optimalziele" Risiken, sind aber den meisten Kompromissen mit schlechten Regierungsformen vorzuziehen.

Wie gut stehen die Chancen, daß sich all diese Einsätze auf nationaler wie auf internationaler Ebene auszahlen werden? Viel wird von den Unwägbarkeiten des legislativen Prozesses, der öffentlichen Meinung und Bushs Talent abhängen, seine Macht zu benutzen, um Freunde zu überzeugen und Gegner zu beeinflussen. Bushs Widersacher unterschätzen ihn schon seit 1994, als er sich als Underdog gegen den amtierenden Gouverneur von Texas durchsetzte. Der Hälfte der US-amerikanischen Bevölkerung ist er zutiefst verhaßt. In Europa halten ihn die meisten für einen ausgemachten Trottel. Doch der angesehene Historiker Sir Martin Gilbert erinnert daran, daß auch Churchill und Roosevelt einst ebenfalls in einem sehr viel ungünstigeren Licht gesehen wurden als heute, da sich der Staub momentaner Stürme gelegt hat.

Wenn der Irak als multiethnische, föderalistische und stabile zivilgesellschaftliche Demokratie wiederaufersteht, wird man die militärischen Fehler und enormen Kosten der Invasion aus einer anderen Perspektive sehen. Wenn die Israelis und Palästinenser den Waffenstillstand halten und darauf eine gegenseitige Akzeptanz und Kooperation aufbauen können, dann wird Bushs Behauptung, Saddam zu stürzen, sei der erste Schritt auf dem Weg zum Frieden im Mittleren Osten gewesen, nicht mehr halb so naiv erscheinen.

Wenn es ihm gelingt, die Rentenvorsorge für das 21. Jahrhundert auf Vordermann zu bringen, werden vielleicht sogar die Europäer mit ihren eigenen kriselnden Systemen zugeben, daß sie noch etwas von der dynamischen Experimentierfreudigkeit der USA lernen können. Bislang stehen hinter all diesen Wenns große Fragezeichen. Egal, was man jedoch von George W. Bush hält - und wenige haben keine Meinung -, man muß zugeben, daß er nicht um politische "Peanuts" spielt.

 

Prof. Dr. Elliot Neaman ist Professor für Neuere europäische Geschichte an der University of San Francisco.


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