© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/05 11. März 2005

Ein Dach überm Kopf und drei warme Mahlzeiten
"Big Brother" in Pisa-Zeiten: Die RTL-Sendung verrät viel über Deutschland / Zuschauer kommen auf ihre Kosten
Frank Liebermann

Ein Jahr lang mußte sich Sascha rund um die Uhr begaffen lassen. Jegliche Aktivität wurde verfolgt, 24 Stunden am Tag. Den Lohn erntete er in der vergangenen Woche: eine Million Euro. Kein Wunder, daß Sascha vor Freude weinte. Mit "Danke, Deutschland" verabschiedete sich das ehemalige Model von seinem Publikum. Sascha ist der Gewinner von "Big Brother" und darf nun zurück zu seiner Familie.

Die einjährige Staffel von "Big Brother" war so erfolgreich, daß RTL 2 jetzt einen draufsetzt. Jetzt gibt es "Big Brother - Das Dorf". Neu ist, daß die "Reality-Soap" nicht enden soll - vorausgesetzt, die Quoten stimmen. Aber dafür wird der Sender schon sorgen. Im neuen Deutschland ist eben vieles anders. Ein sicheres Dach über dem Kopf, drei warme Mahlzeiten am Tag und ein Arbeitsplatz sind für viele Menschen keine Selbstverständlichkeit mehr. Da wundert es auch nicht, wenn sich Zigtausende um die Teilnahme bewerben. Die Chancen auf eine Teilnahme an dem Format sind zwar schlechter als die Chance auf einen Arbeitsplatz, allerdings immer noch höher als auf einen Gewinn im Lotto.

"Darf man Menschen, die nichts verbrochen haben, ohne Urteil unbegrenzt einsperren, ihnen rechtlichen Beistand verweigern, sie auch noch zur Schau stellen und demütigen? Kurzum: Darf RTL 2 die 'Big Brother'-Bewohner so behandeln wie die Amis ihre Gefangenen auf Guantanamo?" fragte unlängst Henryk M. Broder. Die Antwort ist einfach. Ja, man darf. Die Menschen können schließlich jederzeit nach Hause gehen. So einfach ist das.

Man sollte "Herausforderung" zum Unwort des Jahres küren

Aber warum lassen sich immer mehr Menschen auf so ein Abenteuer ein? Die wenigen Minuten Ruhm, in denen nach Andy Warhol jeder Mensch ein Star ist, können es kaum sein. Immerhin lassen sich die Mitspieler für Monate wegsperren, in der neuesten Staffel sogar für unbegrenzte Zeit. Und was sind das für Menschen, die sich monatelang freiwillig einsperren lassen? Ohne Fernsehen, Radio, Internet, Zeitungen oder Bücher? Es sind dieselben Menschen, die immer wieder von "Herausforderung" reden. Es ist für sie eine "Herausforderung", wenn sie einen Text auswendig lernen müssen, Holz hacken sollen oder einen Tag an einen Mitbewohner gekettet sind. "Herausforderung" sollte einmal zum Unwort des Jahres gekürt werden. Die Charaktere sind auf der einen Seite unterschiedlich, andererseits wirken sie wie geklont. Keiner der Kandidaten verfügt über eine ordentliche Bildung. Die meisten Teilnehmer sind Models, Telefonisten, Friseusen, Promoter, Kellner oder Hilfsarbeiter. Ingenieure, Professoren oder Chirurgen wurden bisher noch nie als Kandidaten gesichtet.

"Big Brother" nimmt auch eine soziale Funktion wahr. Die Sendung ist ein Seismograph für alles, was in der jüngeren Zielgruppe gesellschaftlich erlaubt ist: Freundin betrügen, Mitbewohner belügen oder faul sein.

Auch der Zuschauer kommt auf seine Kosten. Menschen, die sich am Abend nicht mit komplexen Themen auseinandersetzen wollen, können der immergleichen Dramaturgie leicht folgen. Wer schon einmal mit anderen Menschen im Fahrstuhl steckengeblieben ist oder sich mit einer Gruppe im Wald verlaufen hat, kennt die Situation: Durch die Isolation bildet sich eine Schicksalsgemeinschaft. Und der Zuschauer darf bei "Big Brother" daran teilhaben. Für jeden gibt es die entsprechenden Identifikationsgruppen, hierarchisch gegliedert: die Chefs, die Assis (für Assistenten) und die Hiwis. Die Grundsituation ist einfach. Jeder kann sich nach oben kämpfen oder wird nach unten gedrückt.

Das Ganze wird durch das "Zehn kleine Negerlein"-Prinzip verschärft. Regelmäßig schmeißt das Publikum einen Bewohner raus. Alles ist fast wie im richtigen Leben.

Vielleicht ist das deutsche Pisa-Volk schon stärker abgestumpft, als viele ohnehin annehmen. Ist wirklich niemand mehr geschockt, wenn "Big Brother"-Bewohner glauben, die Hauptstadt von Hessen sei Dresden, Shakespeare nicht kennen und die Quadratwurzel aus vier nicht berechnen können? Bei "Big Brother" wird das Mittelmaß zum Leitbild. Um im Fernsehen zu Ruhm zu kommen, muß man gar nichts mehr können. Es genügt die pure Existenz.


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