© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/05 11. März 2005

Lola rennt weiter
Konventionell: Christopher Smiths Horrorfilm "Creep"
Michael Insel

Die Londoner U-Bahn-Schächte sind der ideale Schauplatz für einen Horrorfilm: dunkel, klaustrophobisch, geheimnisumwoben. Tunnel und Bahnhöfe aus dem viktorianischen Zeitalter wurden zugemauert und vergessen. Down Street etwa, wo Winston Churchill einen provisorischen Bunker einrichten ließ, oder Aldwych Station: Während des Zweiten Weltkriegs nutzte die britische Regierung den offiziell seit 1917 stillgelegten Bahnhof als Büro, in den fünfziger Jahren wurden dort Einwanderer untergebracht, und spuken soll es obendrein.

In dieser geschichtsträchtigen Unterwelt, die dem Regisseur und Drehbuchautor Christopher Smith in seinem Spielfilmdebüt "Creep" als Kulisse für den modernen U-Bahnhof Charing Cross dient, findet sich eines Nachts die lebenslustige Modelagentin Kate (Franka Potente) wieder: Auf dem Weg von einer Party zur nächsten schläft sie ein und verpaßt den letzten Zug. Als sie aufwacht, ist sie mutterseelenallein - sieht man einmal von den Obdachlosen Mandy (Kelly Scott) und Jimmy (Paul Rattray) sowie von George (Vas Blackwood) ab, der es vom Drogendealer zum Kanalarbeiter gebracht hat. Zu dieser nächtlichen Notgemeinschaft gesellt sich Kates zudringlicher Kollege Guy (Jeremy Sheffield), der ihr gefolgt ist.

Sie alle sind gefundenes Fressen für das Monster (Sean Harris), das in den Tunneln und Abwasserkanälen lauert. Einzig Kate scheint rücksichtslos genug, gegen das Grauen zu bestehen. Na dann gute Nacht, denkt der Zuschauer und ist allenfalls ein bißchen gespannt, ob sie am Ende die obligatorische "einzige Überlebende" bleiben oder aber - zum Teufel mit den Konventionen des Horror-Genres - eines blutigen Todes sterben wird.

Potente, die in ihren jüngsten Hollywood-Ausflügen in "Die Bourne-Identität" (2002) und "Die Bourne-Verschwörung" (2004) jeweils eine Nebenrolle zu spielen hatte, ist diesmal nicht nur die Heldin des Films, sondern muß über weite Strecken die Leinwand füllen. Diese Herausforderung nimmt sie mit Gusto an, schreit, als ginge es um Leben und Tod, und rennt, als spielte sie immer noch Lola. Daß die anderen es so eilig haben mit dem Sterben, macht ihr die Sache nicht leichter. So ist die zweite Hälfte des Films eher voyeuristisches Horrorspektakel als spannungsreicher Thriller.

Dennoch gibt es vor allem in der ersten halben Stunde ein paar echte Schockeffekte. Dank Danny Cohens herausragender (Hand-)Kameraarbeit scheint in jeder Ecke Unheil zu lauern - bis der Regisseur den fatalen Fehler begeht, das Ungeheuer, mit bürgerlichem Namen Craig, viel zu früh zu zeigen. Dessen zunächst in eingängigen Bildern erzählte Lebensgeschichte wirft letztendlich mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Was bleibt, ist ein eindimensionales Monster und der flüchtige Eindruck einer Figur, deren Ausgestaltung den Film ungleich interessanter gemacht hätte. Am überzeugendsten geschieht dies ausgerechnet in einer überlangen, ungemein grausamen Szene, in der Mandy die groteske Parodie einer Operation über sich ergehen lassen muß. Anspielungen auf Tobe Hoopers "Texas Chainsaw Massacre" (1973), das hierzulande auf dem Index steht, sind unübersehbar.

Überhaupt tritt der Horror öfter in den Hintergrund, und "Creep" gerät zur reinen Hommage, nicht zuletzt an Gary Shermans "Tunnel der lebenden Leichen" (1972), der die Atmosphäre der Londoner U-Bahn-Schächte in ganz ähnlichen Bildern einfängt. Der laute Elektrorock-Soundtrack und die überall herumhuschenden Ratten erinnern an Giallo-Filme wie Dario Argentos "Suspiria" (1977) und "Tenebrae" (1982). Ridley Scotts Klassiker "Alien" (1979) drängt sich fast von selber auf, sobald eine starke Frauenfigur mit dem Monster allein gelassen wird.

Daneben gibt es Momente, in denen "Creep" dem Publikum echten Terror einzujagen vermag - einem jüngeren Publikum zumal, das mit stumpfsinnigen Slasher-Filmen und parodistischen Horrorstreifen aufgewachsen ist. Smiths Erstling weist ihn neben Rob Schmidt ("Wrong Turn", 2003) und Eli Roth ("Cabin Fever", 2002) als einen jener jungen Genre-Enthusiasten aus, deren Fantasie der Geist der siebziger Jahre heimsucht, der Blütezeit billig, aber um so einfallsreicher produzierter Schocker. Ihrem eigenen Werk bekommt das manchmal besser, manchmal schlechter.

Foto: Kate (Franka Potente): Wird sie die "einzige Überlebende" sein?


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