© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/05 18. März 2005

Jeder kämpft für sich allein
von Michael Wiesberg

In der Globalisierungsfalle": so überschrieb jüngst der Präsident der Münchner IfO-Instituts für Wirtschaftsforschung, Hans- Werner Sinn, einen Beitrag für den Rheinischen Merkur. Deutschland sei zwar "Vizeweltmeister beim Export", stellte Sinn fest, hierbei handle es sich aber um "künstliche und statistische Effekte". Tatsächlich entwickelte sich Deutschland mehr und mehr zu einer "Basar-Ökonomie, die die Welt mit attraktiven Waren" beliefere, doch "diese Waren zu einem immer kleineren Teil selbst produziert".

Eine Folge dieser Entwicklung: Deutsche Arbeiter würden "Schritt für Schritt" wegrationalisiert. Sinn wäre nicht Ökonom, wenn er nicht einen Weg aus dieser Falle weisen würden: die Löhne müßten "flexibler" werden, der Lohnabstand zwischen Deutschland und den Staaten Osteuropas oder Asiens, mit denen deutsche Arbeiter in Konkurrenz stehen, müßte sich verringern. Das sei das Gesetz des "Faktorpreisausgleichs". Man müsse zur Kenntnis nehmen, daß derjenige, der "eine Arbeitsleistung anbietet, die die Unternehmen im Ausland billiger einkaufen können", nicht zu "den Gewinnern der Globalisierung gehören" könne.

Kritisch geht Sinn mit den lange Zeit zäh verteidigten "sozialstaatlichen Errungenschaften" in Deutschland ins Gericht. Der Lohnersatz in Form von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe baue Mindestlohnanforderungen auf, die die Wirtschaft aufgrund der "Niedriglohnkonkurrenz aus aller Welt" nicht mehr erfüllen könne.

Der Königsweg, den Sinn aus dieser Situation weist, lautet: Der Lohnersatz sollte einmal in "belastungsneutrale Lohnzuschüsse" umgewandelt werden. Dadurch könnten die Verteilungsziele des Sozialstaates verteidigt werden. Zu dem Lohneinkommen müsse in Zukunft ein "Kapitaleinkommen als Einkommensquelle" hinzutreten. Meint: Die Arbeitnehmer sollten an den Unternehmen mitbeteiligt werden.

An den aus deutscher Sicht negativen Auswirkungen des "Faktorpreisaus-gleichs" dürften aber auch diese Maßnahmen wenig ändern. Was Sinn hier durch die Blume zu erkennen gibt, ist die Bestätigung der These, daß am Ende des Globalisierungsprozesses in den alten Wohlstandszonen des Westens Strukturen entstanden sein werden, die Dritte-Welt-Verhältnissen ähneln. Der Globalisierungsprozeß wird den Abstand zwischen den Industrie- und Entwicklungsländern im Sinne einer Nivellierung nach unten verringern.

Dieser Nivellierungsprozeß hat längst eingesetzt und wird in Deutschland immer spürbarer. Die verschiedenen deutschen Bundesregierungen haben an diesem Prozeß im übrigen einen spürbaren Anteil, der nicht auf das Konto der Normativität des Faktischen (nämlich der Globalisierung) geschlagen werden kann. Dadurch, daß sie die Hindernisse für die Zuwanderung von Armutsflüchtlingen und Hilfsarbeitern immer weiter abgesenkt haben, mußte es zwangsläufig zu einer signifikanten Minderung des Preises für einfache Arbeit kommen.

 

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In den alten Wohlstandszonen des Westens entstehen Strukturen, die Dritte-Welt-Verhältnissen ähneln. Der Abstand zwischen Industrie- und Entwicklungsländern verringert sich durch eine Nivellierung nach unten.

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Diese unkontrollierte Zuwanderung hält indes nicht nur weiter an, sondern steigt sogar noch weiter an (z. B. aus den neuen osteuropäischen EU-Mit-gliedstaaten). Was das bedeutet, liegt auf der Hand. Nach dem Prinzip der kommunizierenden Röhren kommt es mittel- bis langfristig zu einer Angleichung der hochentwickelten Länder auf das Niveau der wirtschaftlich zurückgebliebenen Länder. Diese Entwicklung wäre selbst dann unumkehrbar, wenn der deutsche Arbeitsmarkt in jenem Maße "flexibilisiert" würde, wie es sich liberale Ökonomen wünschen.

Sinn selbst hat das Stichwort "Glo-balisierungsfalle" aufgenommen. Als die beiden Journalisten Hans-Peter Martin und Harald Schumann im Jahre 1996 ihr Buch "Die Globalisierungsfalle - Der Angriff auf Demokratie und Wohlstand" veröffentlichten, wurden deren Thesen schnell als "Ausdruck linker Globalisierungskritik" (die man als ideologisch motivierte Panikmache nicht weiter ernst zu nehmen braucht) abgetan. Martins und Schumanns Analysen paßten ebensowenig wie die mahnenden Stimmen von Horst Afheldt ("Wohlstand für niemand", 1994) oder James Goldsmith ("The Trap", 1993, dt.: 1995) in die globale Aufbruchsbetrunkenheit.

Wer sich an die Diskussion erinnert, die Mitte der 1990er Jahre über das Thema "Globalisierung" geführt wurde, dem werden auch die Verheißungen noch in Erinnerung sein, die damals an die Vision einer grenzenlosen Ökonomie geknüpft worden sind: Alle Staaten würden angeblich von der Globalisierung profitieren, insbesondere aber Deutschland als "Exportnation".

Die Vertreter der Kieler Instituts für Weltwirtschaft priesen den Deutschen die Ära der Globalisierung als "Ära des Wissens, des Lernens, der Information" an, in der die "dickleibigen Staaten und hierarchisch gegliederten Großgebilde" an Bedeutung zugunsten von "Indivi-diuen und kleinen freiwilligen Gemeinschaften" verlören. So ließ sich der Ökonom Herbert Giersch in der FAZ (11. Januar 1997) vernehmen. Und der US-Ökonom Charles E. Schultze sah sogar das "Ende von Inflation und Arbeitslosigkeit" kommen (Handelsblatt, 5. Dezember 1996).

Die Realität ist heute eine ganz andere. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß die über Jahrhunderte hinweg gewachsene unauflösbare Einheit von Volk, Raum und Staat mehr und mehr zum Verschwinden gebracht wird. Wir müssen weiter zur Kenntnis nehmen, daß sich die relevanten ökonomischen Strukturen entterritorialisieren und entnationalisieren; sie organisieren sich zunehmend in überstaatlichen Räumen.

Eine Folge dieser Entwicklung: Der Weltmarkt ist, so schlußfolgern die Ökonomen Horst Rodemer und Hartmut Dicke von der FH Offenburg - deren Ausführungen sich mancher Gedanke dieses Beitrages verdankt -, immer weniger das "Ergebnis nationalstaatlicher Interaktion, und nationale Ökonomien immer mehr das Ergebnis von Differenzierungsprozessen durch den Weltmarkt".

Deutsche Arbeitnehmer, insbesondere in den sogenannten Niedriglohnbereichen, sinken mehr und mehr zu "Globalisierungsverlierern" herab. An ihnen bewahrheitet sich eine andere "Vision": nämlich die von der 20:80-Gesellschaft, die wohl zuerst von Robert Reich, ehemals Arbeitsminister der Regierung Clinton, in seinem Buch "The Work of Nations" (1991, dt.: 1993) aufgebracht wurde. 20 Prozent, zu denen Reich die von ihm so bezeichneten "Symbolanalytiker" zählt, gehörten zu den Gewinnern, der große Rest würde eigentlich kaum mehr benötigt, müsse aber irgendwie bei Laune gehalten werden.

Prophetisch klingen heute die Worte, die Reich in der Einführung zu seinem Buch fand: "Wir durchleben derzeit eine Transformation, aus der (...) neue Formen von Politik und Wirtschaft hervorgehen werden. Es wird dann keine nationalen Produkte und Technologien, keine nationalen Wirtschaftsunternehmen, keine nationalen Industrien mehr geben. Es wird keine Volkswirtschaften mehr geben (...) Alles, was dann noch innerhalb der Grenzen eines Landes verbleibt, sind die Menschen, aus denen sich eine Nation zusammensetzt." (Hervorhebung im Original)

Dieser Transformationsprozeß hält nach wie vor an und wird weitergehen. Hierfür sei als Beispiel nur das Stichwort "GATS" (General Agreement on Trade in Services) angeführt. GATS: das ist die derzeit diskutierte Dienstlei-stungsrichtlinie der EU im globalen Maßstab. GATS ist ein multilaterales Vertragswerk der Welthandelsorganisa-tion (WTO), das den grenzüberschreitenden Handel mit Dienstleistungen weiter liberalisieren will. Treibende Kräfte hinter GATS sollen laut David Hartridge, dem ehemaligen Direktor der GATS-Abteilung im WTO-Sekretariat, US-Firmen wie American Express oder Citicorp gewesen sein.

Wird GATS in der vorliegenden Form Realität, verpflichtet es die WTO-Mitgliedstaaten, ausländische Anbieter von Dienstleistungen inländischen gleichzustellen. Die Dienstleistungsrichtlinie der EU ist also, wenn man so will, die Umsetzung von GATS im EU-Maßstab. Die Brisanz wird deutlich, wenn man sich die Konsequenzen des angestrebten Vertragswerkes vor Augen hält: Es berührt "nahezu alle Gesetze, die Arbeitnehmer, Wohlstand und soziale Absicherung betreffen" (Wiki-pedia). Tritt es in Kraft, werden seine Regeln irreversibel sein.

Entwicklungen wie diese belegen - um einen prononcierten Globalisie-rungskritiker aus dem konservativen Spektrum zu nennen - Rolf Peter Sieferles in seinem Buch "Epochenwechsel" (1994) vorgetragene Prognose, daß der Wandel im Zeichen der Globalisierung die Fundamente zerstört, auf denen in der Vergangenheit in den Wohlstandszonen die Prosperität der einzelnen Völker und Nationen beruhte. Im einzelnen hat Sieferle hier die Handlungsfähigkeit des Staates, die wirtschaftliche Autarkie, das System der Massenproduktion, die Kartellierung der Arbeit und den damit verbundenen Ausschluß ausländischer Arbeitskräfte sowie die nationale Solidarität und damit die Treue zum eigenen Staat im Auge.

Konsequenterweise begreifen sich die Bürger eines Landes nicht mehr als in einem Boot sitzende Unternehmer und Arbeitskräfte; dies deshalb, weil ihre Nationalität und Staatsangehörigkeit kaum noch eine Rolle spielen. Deutsche Politiker, aber auch und vor allem Medienschaffende und andere Exponenten der öffentlichen Meinungsbildung haben dies längst begriffen. Sie sprechen infolgedessen nur von den "Menschen", die "in einem Lande leben". Diese Sprachregelung ist kein Zufall, sondern Ausdruck einer Ideologie des "Menschismus" (Dietrich Schuler), ohne den die Globalisierung offensichtlich nicht denkbar zu sein scheint.

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Der Kapitalismus ist blind für Loyalitäten jeglicher Art. Wer dennoch an diese Loyalität appelliert, hat entweder die Bewegungsgesetze des Kapitals nicht begriffen oder ist ein struktureller Opportunist.

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Wer heute von "Menschen" spricht, meint nicht ein bestimmtes Individuum, sondern im Kern eine Einheit des Kollektivs "Menschheit". Das menschliche Individuum, das in vielerlei Bezugssystemen steht, sieht sich auf den bloßen biologischen Gattungsbegriff reduziert. Auch dies liegt in der Natur der Sache: Die Globalisierung bringt einen neuen, sich ökonomisch definierenden Menschenschlag hervor, für dessen Alltagsidentität Religion, Kultur und ethnische Zugehörigkeit kaum noch oder keine Rolle mehr spielen.

In diese Entwicklung paßt das absehbare Ende der sozialstaatlichen Ver-faßtheit Deutschlands. In dem Maße, in dem er versucht, das wachsende Heer der Globalisierungsverlierer durch immer höhere Transfers zu alimentieren, zerstört der Sozialstaat die das Fundament bildende Ressourcendecke. Hans-Werner Sinn liefert die (die inzwischen hinreichend bekannte) Begründung: Ein verschärfter Zugriff auf das Einkommen der Globalisierungsgewinner verschlechtert die Standortbedingungen auf dem Territorium und führt zu einer Abwanderung mobiler Faktoren. Das parallele Schwinden der Wanderungsbarrieren läßt gleichzeitig in den Wohl-standszonen das Heer der Armen (meist Migranten aus aller Herren Länder) wachsen, so daß dem Wohlstandsstaat sukzessive der Boden entzogen wird.

Sieferle und andere kommen deshalb zu dem Schluß, daß am Ende des Marsches in die universalistisch-emanzipierte (Welt-)Gesellschaft nicht Arkadien stehen wird, sondern der Sieg der Stärksten, Skrupellosesten und Durchset-zungsfähigsten.

Für den US-Politologen Benjamin R. Barber liegt diese Entwicklung in der Natur des Kapitalismus. Seiner Ansicht nach sei es illusionär, so Barber in einem Beitrag für die FAZ (8. Januar 1998), von der kapitalistischen Welt zu erhoffen, daß sie selbst Mechanismen hervorbringt, die gewachsene Gesellschaftsstrukturen vor der Zerstörung bewahren. Es sei das Wesen des Kapitalismus, daß er auf die Zerstörung alles dessen hinarbeitet, was dem Verwer-tungsinteresse des Kapitals entgegensteht, meint Barber.

Dies macht er unter anderem am Niedergang der europäischen Eßkultur anschaulich. Ein opulentes Mahl im Familienkreis, wie es zum Beispiel in den Mittelmeerländern Europas bis heute gepflegt wird, steht einer Marktex-pansion der diversen Fast-Food-Ketten wie McDonald's entgegen. Zugespitzt könnte man sagen: Alles, was den Ver-wertungsinteressen des Kapitals entgegensteht, wird erodiert. Also müssen, um bei unserem Beispiel zu bleiben, die Eßtraditionen, eben oder gerade weil sie "marktwidrig" sind, verschwinden.

Eine derartige Strategie habe nichts mit "Werte-Imperialismus" zu tun, schreibt Barber, sondern mit der Logik des Profits. Es liege nun einmal im Wesen des Kapitalismus, daß in Zeiten einer ungehemmten Marktwirtschaft Unternehmensmanager einer anderen Logik folgen müßten, als sich dies verantwortungsbewußte Bürger wünschen würden.

Mit diesem Argument erledigt sich die leidige "Patriotismus-Debatte", in der deutsche Politiker Unternehmensmanagern vorhalten, sie handelten "unpatriotisch", wenn sie im Ausland investierten und nicht in Deutschland. Dieser Vorwurf geht ins Leere: Der Kapitalismus ist blind für Loyalitäten jeglicher Art. Wer dennoch an diese Loyalitäten appelliert - und selbst durch internationale Verträge dem Freihandel Tor und Tür geöffnet hat -, der hat entweder die Bewegungsgesetze des Kapitals nicht begriffen oder er ist ein struktureller Opportunist.

Letzteres muß von denjenigen Mitgliedern der rot-grünen Regierung angenommen werden, die mit dem Begriff "Patriotismus" hausieren gehen. Wie deren "Patriotismus" aussieht, zeigt ihre ungebrochene Befürwortung und Beförderung der Zuwanderung nach Deutschland, die vor allem auf Kosten jener Klientel geht, von der sich die Sozialdemokraten in der Bundesregierung längst verabschiedet haben: der kleinen Leute.

Systemtheoretiker wie Sieferle sind der Überzeugung, daß das mit dem Globalisierungsprozeß einhergehende liberale System keinen Bestand haben wird. Er zeigt sich überzeugt, daß am Ende dieses Prozesses keineswegs eine universalistisch-zivile Welt mit freien und gleichen Menschen stehen wird, sondern eine zutiefst unsichere, partikularistische Welt.

Hinter der universalistisch-humanitären Rhetorik, mit der der Marsch in die kommende Weltgesellschaft orchestriert wird, steht bei Lichte gesehen nichts anderes als Menschenverachtung. Es gilt das Recht des Stärkeren. Wer sich am Markt aus welchen Gründen auch immer nicht behaupten kann, der scheidet aus und sieht einer düsteren Zukunft entgegen. Auf irgendwelche "Solidarstrukturen" wird er immer weniger hoffen können. Zukünftig gilt: Jeder kämpft für sich allein.

 

Michael Wiesberg, Jahrgang 1959, ist Publizist und Lektor. Auf dem Forum schrieb er zuletzt zum Thema Föderalismus (JF 48/04).


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