© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/05 25. März 2005

Den Zauber zerreden
Sex in Zahlen: Bill Condons "Kinsey" entbehrt der Prüderie
Claus-M. Wolfschlag

Nicht immer ganz zu Unrecht bemängeln konservative Kulturkritiker die Sexualisierung unserer Gesellschaft. Die Schuld daran wird der "sexuellen Revolution" der 1960er Jahre zugeschoben, die eine in der Bewertung der Kritiker verklärte, heile Welt familiärer Idylle zerstört habe. In diese "heile Welt" vor der "sexuellen Revolution" entführt uns ein Film Bill Condons, der sich der Biographie eines der Urheber der modernen Sexualmoral widmet: Alfred Charles Kinsey, Biologe und Pionier der Sexualforschung.

Alfred Kinsey (Liam Neeson) wird 1894 in Hoboken, New Jersey, geboren. Er wächst in einem sehr konservativen Elternhaus auf, hat unter einem extrem autoritären Vater (John Lithgow) zu leiden, der sich bei jeder Gelegenheit als fanatischer Moralapostel aufspielen muß. Früh rebelliert der intelligente Junge und schlägt gegen den Willen des Vaters eine Universitätskarriere ein. Er studiert in Harvard und wird 1929 Professor für Zoologie an der University of Indiana in Bloomington. Dort lernt der als schrullig geltende Hochschullehrer seine Frau Clara McMillen (Laura Linney) kennen, eine ebenso unerfahrene Jungfrau wie Kinsey.

Erst 1936, im Alter von 42 Jahren, entdeckt der Insektenforscher die menschliche Sexualität als wissenschaftlich bis dahin noch nicht erschlossenes Betätigungsfeld. Ein junges Ehepaar mit sexuellen Problemen sucht Rat bei ihm. Nach ihrer bevorzugten sexuellen Stellung befragt, antwortet das Paar verunsichert mit der Gegenfrage, ob es denn mehr als eine gäbe. Kinsey erkennt die gravierenden Defizite im Umgang mit Sexualität. Mit einem Team junger Wissenschaftler entwickelt er deshalb ein empirisches Konzept und befragt mit einer ausgeklügelten Interviewtechnik mehr als 20.000 Amerikaner in Einzelgesprächen nach deren sexuellen Gewohnheiten. Anschließend wurden die so gewonnenen Erkenntnisse systematisch ausgewertet und mit finanzieller Unterstützung der Rockefeller-Stiftung in den Büchern "Das sexuelle Verhalten des Mannes" (1948) und "Das sexuelle Verhalten der Frau" (1953) veröffentlicht.

Beide Studien wurden gigantische Verkaufserfolge, innerhalb von Monaten gingen 200.000 Exemplare über die Ladentische - für eine akademische Publikation ein unglaublicher Erfolg, der das große öffentliche Interesse an der Thematik belegte. Übersetzt wurden die Schriften in acht Sprachen. Kinseys Ergebnissen zufolge hatten je nach gesellschaftlichem Stand zwischen 67 und 98 Prozent aller Männer vorehelichen Sex, 50 Prozent aller verheirateten Männer hatten Affären, 92 Prozent der Männer gaben Selbstbefriedigung zu, und 37 Prozent der amerikanischen Männer verfügten zumindest über eine homosexuelle Erfahrung.

In der noch größeres Aufsehen erregenden Schrift über Frauen kam heraus, daß 62 Prozent der Frauen masturbierten, fast 50 Prozent vor der Ehe Sex hatten und 26 Prozent der verheirateten Frauen Affären zugaben. Die Studienergebnisse brachten Kinsey den Ruf eines "amerikanischen Freud" ein, führten aber auch zu massiver Kritik aus dem christlich-konservativen Machtapparat und Universitätsbetrieb, da er das große Schweigen über die Sexualität, die gesellschaftliche Verdrängung des Eros aufzubrechen drohte. Zahlreiche amerikanische Männer hatten große Probleme damit, sich ihre behüteten Töchter oder Mütter als sexuelle Wesen vorstellen zu müssen. Eifersüchteleien im eigenen Team und Attacken der staatlichen Behörden bereiteten Kinsey zunehmend Schwierigkeiten. Er wurde zum Paria des Wissenschaftsbetriebs.

Der Film "Kinsey" führt in eine heute unvorstellbare Welt - der sich George W. Bushs Amerika in manchen Zügen beunruhigend wieder annähert -, er zeigt eine Jugend vor jeglicher sexueller Aufklärung - eine einfältige, mit extremen Ängsten besetzte Gesellschaft, die Sexualität stets nur mit Schuldgefühlen in Verbindung bringen konnte. Kinsey erscheint in dieser Welt als Rebell, der seine Befreiung allerdings immer weiter treibt, und letztlich an den Widerständen langsam zerbricht und verbittert. Dabei wird zugleich bereits angedeutet, welchen negativen Umschlag die angestoßene "sexuelle Revolution" nehmen wird, welche ganz anderen, neuen Probleme auf die Menschen zukommen werden.

Kinseys Selbstversuche im Bereich der Promiskuität werden schließlich zur ernsten Belastungsprobe für seine Ehe. Die von ihm betriebene offene Rede über Sexualität neigte zum Zerreden des Zaubers, welcher die Erotik umgeben kann, und führte wiederum zu Widerständen seines eigenen Sohnes.

Unverkrampft, heiter und ohne Prüderie nähert sich Regisseur Condon dem Lebenswerk des sturen Mannes, der 1956 in Bloomington aufgezehrt vom Streit um seine Person an Herzversagen starb. Die Low-Budget-Produktion konzentriert sich auf die Hauptfigur und die Dialoge, die in die Welt der Sexualforschung einführen. Bill Condon ist so eine feinfühlige Biographie-Verfilmung gelungen, die sich seiner umstrittenen Hauptfigur zwar mit Sympathie nähert, dennoch aber wertungsfrei bleibt, die Zeitumstände differenziert und in den richtigen Momenten mit auflockerndem Humor zeigt.


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