© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/05 25. März 2005

Heilt euch doch selbst
Flick Collection: An diesem Sonntag endet die umstrittene Ausstellung im Hamburger Bahnhof
Jens Knorr

Wir sind Flick! Die "Friedrich Christian Flick Collection", deren Präsentation an diesem Sonntag endet, war für die Selbstverständigung der Berliner Republik eine Notwendigkeit und für die Hauptstadt sowieso ein Glücksfall. Die großzügige, kluge Präsentation im Hauptgebäude des Hamburger Bahnhofs und den - auf Kosten Flicks - umgebauten Rieckhallen will nicht überwältigen, sondern überzeugen, nicht fesseln, sondern soziale Phantasie entfesseln. Je vertrauter dem Besucher die Werke, je vertrauter er mit den Werken wird, die in der Eröffnungsausstellung zu sehen sind, desto bitterer auch wird der Nachgeschmack ob der Gegenkampagne vor- und nebenher.

Von einer neuen Affäre Flick kann nicht die Rede sein, wohl aber von einer "kompensatorischen" Debatte, während der verdrängte historische Defizite der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft auf Person und Namen des dritten Flick projiziert wurden, wohl aber von provinzieller Kunstfeindlichkeit, notdürftig politisch verbrämt, wohl aber von einem veritablen politischen Erpressungsversuch.

Der Erpresser heißt nicht Flick, der sich von seinen Verpflichtungen gegenüber den Zwangsarbeitern, die in Großvaters Firmen schufteten, habe freikaufen, seinen Familiennamen weißwaschen, den Wert seiner Sammlung steigern, indem er sie der Öffentlichkeit zu seinen Konditionen habe aufzwingen wollen. Vielmehr wollten Salomon Korn, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, und andere, mehr oder minder Prominente im Gefolge der Öffentlichkeit die Alternative aufzwingen, entweder in ihrem Sinne, den sie für den Willen der ehemaligen Zwangsarbeiter ausgaben, Entscheidungen des Privatmanns Flicks zu beeinflussen oder auf dessen Kunstwerke zu verzichten (JF 23/04).

Flick springt in die Bresche, die Wirtschaftsliberale schlugen

Indem Flick Kunst und Künstler fördert, springt er in die Bresche, die Wirtschaftsliberale den öffentlichen Haushalten geschlagen haben, deren Verwalter die ihnen anvertrauten Kunstsammlungen finanziell ausbluten lassen. Damit aber greift Flick in eine wesentlich brisantere Debatte ein, und die geht im engeren Sinne um die Zukunft unserer Museen, um den Widerspruch zwischen privatem und öffentlichem Sammeln, um die Art und Weise der Präsentation all dessen und die Deutungsmacht über all das, was aus privater Leidenschaft da zusammengetragen wurde.

Die Debatte geht im weiteren Sinne um nicht weniger "als die Öffnung des Museums für alle Fragen, für die es nirgendwo sonst eine Plattform gibt - eine Öffnung im übrigen, die ja von der Kunst selbst beabsichtigt ist". Flick sagt das in einem Gespräch mit Eugen Blume, Leiter des Hamburger Bahnhofs und mit Joachim Jäger und Gabriele Knapstein verantwortlicher Kurator der Ausstellung.

Dieses Gespräch ist, neben einer umfangreichen Dokumentation der Debatte im Vorfeld, in der Zeitung Museum für Gegenwart abgedruckt, die kostenlos im Eingangsbereich des Hamburger Bahnhofs ausliegt. Sie knüpft, wie Blume im Editorial in Erinnerung ruft, an ein publizistisches Unternehmen Ludwig Justis an. Der damalige Direktor der Nationalgalerie hatte 1930 die Zeitschrift Museum der Gegenwart ins Leben gerufen, um öffentlicher Kritik an der Neuen Abteilung der Nationalgalerie im Kronprinzen-Palais Unter den Linden offensiv zu begegnen.

Über 70 Jahre später bedarf es wiederum einer solchen Zeitschrift, deren erste Ausgabe mit Fakten zu Sammlung, Sammel- und Zahlungstätigkeit des nunmehr Schweizer Steuerbürgers Flick bekannt macht, die übrigens allesamt des längeren bekannt sind. Wenn sich aber auch dann noch 240 Unterzeichner finden, Intellektuelle und Initiativen, um per Zeitungsanzeige unter der albernen Überschrift "Heil dich doch selbst. Die 'Flick Collection' wird geschlossen" ausgerechnet am 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz zur Schließung der Sammlung aufzurufen, und wenn an selbigem Tag im Eingangsbereich des Hamburger Bahnhofs mehrere Liter weiße Dispersionsfarbe verkippt werden - Täter unbekannt, versteht sich -, dann stellt sich die bange Frage, ob nicht die Berufsgenossenschaft der Betroffenheitsdarsteller einer Kulturbarbarei Vorschub leistet, deren Anfängen sie lauter und laut wehren zu müssen meint.

Ludwig Justi hatte sein Projekt "Museum der Gegenwart" 1933 auf Betreiben der Nationalsozialisten aufgeben müssen; das Schicksal der Sammlung moderner - "entarteter" - Kunst im Kronprinzen-Palais ist bekannt und eingehend dokumentiert. Der Vandalismus gegen die Flick Collection scheint klammheimliche Zustimmung zu finden, das siebenjährige Projekt "Museum für Gegenwart" droht zu einem neuen Ernstfall für die Freiheit der Kunst zu werden.

Wenn die Stimmen so honoriger Leute wie die des Kunstsammlers Heinz Berggruen, Michael Blumenthals, Direktor des Jüdischen Museums, und Andreas Nachamas, Projektleiter der Topographie des Terrors, ebensowenig zählen wie 150.000 Besucher allein im vergangenen Jahr, wenn das Wort der lebenden Zwangsarbeiter unvernehmbar oder ganz ausbleibt, wenn überhaupt Argumente gegen Totschlagargumente nichts mehr auszurichten vermögen - was vermag Kunst da noch zu richten?

Man muß schon Tomaten auf den Augen haben, um in der Sammlung nicht auch die Auseinandersetzung des Sammlers mit der eigenen Familiengeschichte zu sehen. Über ererbtes Geld, "Flickreichtum", verfügen zu dürfen, ist das eine, einen Teil dieses Geldes für Kunst auszugeben, mit sicherem Gespür zwar, aber ohne letzte Gewißheit darüber, ob all die Arbeiten, für die es ausgegeben, auch vor der Zeit bestehen werden, das ist das andere.

Diese Arbeiten der Öffentlichkeit zu übergeben im Wissen darum, daß fast jede von ihnen den Namen Flick mit all seinen Implikationen ins Gedächtnis ruft, das ist ein drittes. Wer der dunklen Seite seiner Familiengeschichte eine hellere hinzufügen möchte, der will die dunkle doch nicht verschwinden machen, im Gegenteil: Die dunklen lassen die hellen Flecken um so heller und die hellen die dunklen um so dunkler erscheinen. Ein Name geht nicht reinzuwaschen, wohl aber gehen die Flecken auf einem Namen kenntlich zu machen, auf daß die Rede endlich zwischen Flick und Flick und Flick zu differenzieren beginnt. Die Debatte um die "Flick Collection" kann nun anhand der "Flick Collection" geführt werden. Ebenso die Debatte über Kunst und Gesellschaft. Auch wenn deren Repräsentanten die Kunst noch so sehr feiern: Die Kunst feiert nicht zurück. Sie kann's nicht richten, aber richten kann sie.

So glatt wie die große Ausstellung von Werken des New Yorker Museums of Modern Art ("MoMA") in der Neuen Nationalgalerie (JF 10/04) läßt sich "Flick" nicht konsumieren. Die Kunstwerke der Sammlung verschließen sich dem Konsumenten und öffnen sich dem Mitproduzenten; dem bloßen Beschauer stellen sie sich tot. Kunst findet im Kopf des Betrachters statt. Dem ist aufgetragen, sich von einem an Warenproduktion orientierten Arbeitsbegriff freizumachen, der den Menschen auf die Fähigkeit seiner Arbeitskraft reduziert, Wert und Mehrwert zu schaffen. Daß es mit dem Kapitalwert des "Humankapitals" - was ja lediglich ein anderer Begriff für "variables Kapital" ist - an der Systemschranke des warenproduzierenden Systems nicht mehr weit her ist, hat sich herumgesprochen.

Wer also glaubt, daß sich der "Mehrwertmaschine" des amoklaufenden Attrappenkapitalismus noch irgendein Sinn abgewinnen ließe, dem dürften die Wunsch-, Potenz- und Sexualmaschinen im Hamburger Bahnhof unglaublich, ja, sinnlos vorkommen. Und umgekehrt. "In vielen meiner Werke", sagt Jason Rhoades, dessen ausladende Skulptur "Creation Myth" von 1998 die Hauptattraktion der Historischen Halle ausmacht, "geht es um dieses Perpetuum mobile, das im Arsch ist, aber von selbst zu laufen scheint".

Kunst kann's nicht richten, aber richten kann sie

Von der Entwertung menschlichen Lebens ist das Leben des Künstlers nicht ausgenommen, sein Tun abstrakte Arbeit, unentfremdetes Produzieren eine Chimäre. Er sieht sich vor die Alternative gestellt, immer weiter so und mit zu tun oder aber "lieber nicht" zu tun wie Melvilles Schreiber Bartleby. Auf 128 Monitoren laufen simultan rund 150 Stunden ungeschnittener Videofilm, "Solo Szenen", die den 67jährigen Dieter Roth bei seinen täglichen Verrichtungen zeigen, essend, trinkend, lesend, schreibend, duschend, schlafend.

Dagegen läßt sich Roths überbordende dreißig Meter lange "Gartenskulptur" als ein Versuch des 1998 gestorbenen Künstlers lesen, dem Unsinn und der Langeweile des Lebens Sinnproduktion abzutrotzen. Roths Gartenskulptur hat mit anderen Werken - Werk nicht im Sinne eines bürgerlichen Kunstbegriffs, sondern immer nur als technischer Begriff gebraucht! - gemeinsam, daß sie als ausgestellte zu Denkmälern oder Ruinen künstlerischer Prozesse erstarrt sind; Kunst waren sie nur im Moment der künstlerischen Tätigkeit, die im Falle der "Gartenskulptur" jederzeit von jedermann an jedem Ort weitergeführt werden kann.

Von Nam June Paiks berühmten Kunstaktionen aus den Sechzigern, "TV Bra for Living Sculpture" und "Robot K 456", vermögen zwar filmische Dokumentationen eine vage Ahnung zu geben, nicht aber die Ausstellung der Arbeitsmittel. Von vornherein auf den Augenblick hin angelegt, da sie in Zeit eintreten, sich ereignen und im Ereignen widerlegen, waren die akkurat ausgetüftelten, todlustigen Versuchsanordnungen Roman Signers oder auch die 45 übermütigen Welterklärungsmodelle von Peter Fischli und David Weiss "Stiller Nachmittag/Equilibres", die auf Fotos dokumentiert sind. Die sollten als Illustrationen in BWL-Lehrbücher Eingang finden!

Es ist kein anderer als der aufmerksame Betrachter selbst, der Innehalten und Lauschen der Frau in David Claer-bourts Doppelprojektion "Rocking Chair" von 2003 bewirkt. Es ist kein anderer als der Eintretende selbst, der sich in den Erlebnisskulpturen des Amerikaners Bruce Nauman zum integralen Bestandteil des Kunstprozesses erniedrigt und erhöht.

Das Humankapital lernt den freien Gebrauch des eigenen

Die künstlerische Wahrheit der Arbeiten Naumans, von denen Flick die weltweit umfassendste Sammlung zusammengetragen hat, aber auch vieler der Arbeiten, die hier aus Platzgründen nicht aufgezählt werden können - ihre Wahrheit zeigt sich nicht in dem, was sie sind, sondern in dem, was sie auslösen. Kein anderer als der Besucher, das "Humankapital", selbst hat es in der Hand, den "freien Gebrauch des eigenen" zu erlernen, der, nach einer Bemerkung Hölderlins "das schwerste" ist.

Er muß es nur den anderen fröhlichen, erstaunten Besuchern gleichtun und sich die verschiedenerlei Welten mit offenen Sinnen erwandern, getrost ohne Katalog, aber getrost seine Kinder bei der Hand. Sind die plötzlich weg, dann lümmeln sie gewiß in Pipilotti Rists "Zimmer" von 1994 und zappen sich durch die Pipi-Channels, oder sie stehen inmitten Diana Thaters Rauminstallation "Delphine" von 1999 und spüren nicht die Kälte des roh belassenen Raums am Ende der Rieckhallen.

Dann erscheint vielleicht auch uns diese so vertrauenserweckende wie schreckenseinflößende "Akkumulationsmaschine" als ein riesengroßer Spielplatz, dessen Gerüste und Spielgeräte wir allerdings nur zum Teil betreten dürfen - der Besitzer heißt Flick! -, die wir uns aber von freundlichen Vermittlern, geringfügig Beschäftigten von akademischen Graden, gerne erklären lassen, für kurze, kostbare Zeit mit ihnen eine Gemeinschaft beliebiger Singularitäten bildend, ohne eine Identität einzufordern und ohne eine darstellbare Bedingung der Zugehörigkeit: Die "kommende Gemeinschaft", wie sie Giorgio Agamben ankündigt. In der Hitze des Gefechts um die Sammlung des Kapitalisten Flick ist den aufrechten Kämpen noch gar nicht aufgegangen, worin deren tatsächliches Provokationspotential besteht. Friedrich Christian Flick jedenfalls hat sich auf die Seite seiner Künstler geschlagen. Sind wir Flick? Es liegt nicht an den Künstlern und ihrer Kunst, wenn wir uns in den Bildern, die sich die Nachkommenden von uns machen werden, nicht wiederfinden. 

Fotos: Paul McCarthy, "Bear and a Rabbit" (1991): Ein Spielplatz, dessen Gerüste wir nur zum Teil betreten dürfen, Friedrich Christian Flick

Der Katalog zur Ausstellung im Hamburger Bahnhof, Invalidenstr. 50-51, ist im DuMont Verlag erschienen und kostet broschiert 29,90 Euro, als Hardcover im Schuber 98 Euro.


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