© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/05 01. April 2005

Kolumne
Erinnerungskultur und Erinnerungslücken
Klaus Motschmann

Der 60. Jahrestag der Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945 soll bekanntlich nicht nur ein Tag der Erinnerung an das Kriegsende, sondern auch des Kriegsbeginns sein. Dem kann nur vollauf zugestimmt werden. Trotz der Bemühungen der Verantwortlichen unserer sogenannten Erinnerungskultur gemäß der Devise "Wider das Vergessen" sind nämlich im Laufe der Zeit beachtliche und bedenkliche Erinnerungslücken entstanden. Sie haben zu einer Verdrängung historischer Tatsachen und zur Verzerrung der politischen Wirklichkeit geführt.

Dazu gehört die Tatsache, daß Hitler den Krieg gegen Polen - nach diplomatischer Vorbereitung durch den Hitler-Stalin-Pakt - gemeinsam mit Stalin geführt hat, wenn auch mit einer zeitlichen Verzögerung von zwei Wochen. Stalin rechtfertigte diese Entscheidung mit den Bemühungen um den Erhalt des Friedens in Europa, der nicht von Hitler, sondern von den imperialistischen Westmächten bedroht worden sei. Sein Außenminister Molotow erklärte in einer Rede vor dem Obersten Sowjet am 31. Oktober 1939, daß sich die Beziehungen zwischen Deutschland und der Sowjetunion auf einer Grundlage entwickelt hätten, die mit der "Verewigung des Versailler Nachkriegssystems nichts gemein haben. Wir waren immer der Meinung, daß ein starkes Deutschland die notwendige Bedingung eines dauerhaften Friedens in Europa ist. (...) Daher ist es nicht nur sinnlos, sondern auch verbrecherisch, einen Krieg wie den Krieg für die 'Vernichtung des Hitlerismus' zu führen, einen Krieg der drapiert wird mit der falschen Flagge eines Kampfes für die 'Demokratie'." Im Einklang mit dieser "Friedenspolitik" rückte die Rote Armee wenige Wochen nach dem Polenfeldzug in Lettland und Estland ein, um die Annexion der baltischen Staaten vorzubereiten, und führte einen Krieg gegen Finnland, das sich Forderungen der Sowjetunion widersetzte.

Selbstverständlich verlangen diese Ausführungen eine gründliche Interpretation. Aber dazu müssen die politischen Tatsachen - Vertragstexte, Reden und Proklamationen - wieder bewußt gemacht werden. Interpretation setzt Dokumentation voraus. Dabei kommt es vor allem auf die Erinnerung an, daß diese Politik Stalins nicht nur weltweit von den der Komintern angehörenden Parteien unterstützt wurde, sondern auch von einem Großteil ihrer intellektuellen Mitläufer in den westlichen Demokratien, zumindest durch beredtes Schweigen. Sie haben damit in einer entscheidenden Phase des Kampfes gegen "Faschismus und Krieg" eine klägliche Rolle gespielt, die nicht der Vergessenheit anheimfallen sollte.

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaften an der Hochschule für Künste in Berlin..


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