© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/05 01. April 2005

"Die Weltgeschichte wird ein sehr hartes Urteil fällen"
In seiner Berner Rede vom 22. März 1949 klagte der spätere Bundeskanzler Konrad Adenauer offen die Besatzungspolitik nach 1945 an
Thorsten Hinz

Ort und Zeitpunkt der Ansprache waren klug gewählt. Konrad Adenauer, der Präsident des Parlamentarischen Rates, hatte die Einladung angenommen, am 22. März 1949 auf der Konferenz der Interparlamentarischen Union in Bern eine Rede über Deutschland zu halten. Internationale Aufmerksamkeit war ihm damit sicher. Inzwischen hatte in der Deutschland-Politik der Westmächte ein Umdenken eingesetzt. Diese Entwicklung wollte er vorantreiben, um ein Stück Selbstbestimmung zurückzugewinnen. Form und Inhalt seiner Rede hatten es in sich.

Die Auslegung, aus der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands folge "ein vollständiger Übergang der gesamten Regierungsgewalt an die Alliierten", sei "völkerrechtlich falsch". Sie sei auch ein politischer Fehler, der zu einem "rapiden wirtschaftlichen, körperlichen und seelischen Verfall der Deutschen" geführt und das Ansehen der Westalliierten schwer geschädigt habe.

Die Ernährungslage als katastrophal beschrieben

Die Ernährung und den Gesundheitszustand in Deutschland beschrieb er als katastrophal: Die Kindersterblichkeit in Berlin betrug 1946 13,5 Prozent, sie war exakt 13,5mal so hoch wie in New York. Die Zahl der Tuberkulose-Erkrankungen war gegenüber 1938 um das Zweieinhalbfache gestiegen. In Nordrhein-Westfalen waren im Oktober 1948 fast 160.000 Tuberkulosefälle registriert, davon etwa 37.000 ansteckende. Für sie standen nur 14.000 Krankenhausbetten zur Verfügung. Die Ansteckungsgefahr wurde vergrößert durch die Wohnungsnot, die durch das Hineinpressen Millionen Vertriebener in das zerstörte Rumpfdeutschland weiter gesteigert wurde. Für die Zukunft sei in Deutschland nur noch mit 600.000 Geburten pro Jahr zu rechen, gegenüber 1,5 Millionen im Kriegsjahr 1915. Adenauer fürchtete um die biologische Substanz der Deutschen. Auf hundert deutsche Männer bis zu dreißig Jahren kamen dreihundert Frauen im Alter bis zu 26 Jahren - eine indirekte Kritik an der fortwährenden Praxis der Kriegsgefangenschaft.

Die Besatzungsmächte trugen zur Verschlimmerung der Lage bei, weil sie nur von "eigenen politischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten" ausgingen. Dabei seien "anscheinend (...) auch Intentionen (wirksam), wie sie der Morgenthau-Plan offenbart hat". Die Linderung der Wohnungsnot sei unmöglich, weil die Versorgung der Bauindustrie mit den nötigen Grundstoffen blockiert würde. Unter dem Vorwand der Entmilitarisierung solle die deutsche Konkurrenz ausgeschaltet werden. Adenauer verwies auf die Demontage einer Kammfabrik, die gegen den Protest der deutschen Behörden erfolgt war. Es habe sich herausgestellt, daß der dafür verantwortliche britische Besatzungsoffizier Inhaber einer Konkurrenzfirma in England war. Er zitierte in indirekter Rede aus der Erklärung des Vereins der englischen Uhrenfabriken, der seinem Vorsitzenden dafür gedankt hatte, "daß durch die Demontagen die deutschen Uhrenfabriken noch unter den Produktionsstand von 1936 heruntergedrückt worden seien. Die deutschen Uhrenfabriken hätten jetzt nur noch Maschinen, die zehn Jahre und älter seien. Der britische Uhrenexport sei erheblich gestiegen. Wenn es den Deutschen bei alten Maschinen gelänge, auf dem Weltmarkt wieder dem englischen Export unangenehm zu werden, müßte von neuem an das Problem der Demontage herangegangen werden."

Ein anderes Hemmnis waren der Raub und die Verwertung deutscher Patente und Industriegeheimnisse. Die Russen hätten in einem einzigen Monat 2.000 Berichte der Wehrmacht über geheime deutsche Kriegswaffen erworben. Die Beschlagnahme der IG-Farben-Patente hätten der Chemie-Industrie der USA nach Angaben eines amerikanischen Sachverständigen einen Vorsprung von zehn Jahren gegeben. Nach wie vor seien die Vereinigten Staaten nicht bereit, für deutsche Erfindungen Patentschutz zu gewähren, was den Wiederaufbau der deutschen Industrie lähme.

Großen Raum widmete Adenauer der Vertreibung aus den Ostgebieten. Er sprach von 13,3 Millionen Vertriebenen, von denen nur 7,3 Millionen in der SBZ und den Westzonen angekommen seien. "Sechs Millionen Deutsche sind vom Erdboden verschwunden. Sie sind gestorben, verdorben." Er prangerte die Verschleppung zur Zwangsarbeit nach Rußland an. "Es sind Untaten verübt worden, die sich den von den deutschen Nationalsozialisten verübten Untaten würdig an die Seite stellen." Adenauer zeigte sich überzeugt, daß die "Weltgeschichte" über das Potsdamer Abkommen "ein sehr hartes Urteil fällen" würde.

Meinungskontrolle mit Goebbels' Politik verglichen

"Die öffentliche Meinung ist in Deutschland nicht frei." Die Militärbehörden könnten den deutschen Verlegern jederzeit die Presselizenz entziehen, was zu einer "Vorzensur" führe. "Übrigens hat Goebbels in den ersten Jahren des Nationalsozialismus ein ähnliches Verfahren beobachtet." Zum Schluß seiner Rede zeigte Adenauer sich "tief überzeugt, daß nur ein Zusammenschluß der westeuropäischen Länder Europa retten kann".

Ein künftiger "Kanzler der Alliierten" hatte hier gewiß nicht gesprochen. Die Rede löste international und in Deutschland eine heftige Pressepolemik aus. Ein Sender der französischen Zone forderte in einem Kommentar, das deutsche Volk müsse sich von Politikern wie Adenauer "distanzieren", denn "nicht einmal die Nationalisten der Weimarer Zeit wagten eine derartige Sprache zu führen". Adenauer blieb unbeeindruckt. Er war überzeugt davon, recht zu haben.

In seinem Memoiren zitiert er mit unverkennbaren Stolz aus einem Brief, den ihm der Vater von Hans und Sophie Scholl geschrieben hatte: "Für Ihre offenen Worte in Bern werden Sie Anerkennung und Achtung innerhalb und außerhalb Deutschlands ernten bei allen Deutschen, die Wahrheit und Klarheit lieben, wenn auch die Meute im Augenblick kläfft." Die Rede mag bei den Alliierten sogar widerwilligen Respekt ausgelöst haben. Zwei Monate später duldeten die Hohen Kommissare, daß der eben gewählte Bundeskanzler Konrad Adenauer beim Vorstellungstermin auf dem Petersberg einen Platz auf dem gemäß Protokoll ihnen vorbehaltenen roten Teppich beanspruchte.

Die Berner Rede ist heute so gut wie vergessen. In den Geschichtsbüchern besteht die Nachkriegszeit aus Care-Paketen, Swingmusik und Sartre-Lektüre. Die Deutschen bringen noch etwa 700.000 Kinder pro Jahr zur Welt. Dafür haben sie gelernt, das Potsdamer Abkommen zu lieben. Und Adenauer würde heute für seine relativierende, das Singuläre der deutschen Verbrechen verharmlosende und die Befreiungsmission der Alliierten verzerrende Rede aus der CDU ausgeschlossen werden.

Foto: Hungerdemonstration Münchner Studenten 1947: Im Rückblick dominieren Care-Pakete und Swingmusik

Foto: Adenauer mit Alliierten Stadtkommandanten und Bürgermeister Reuter (r.), Berlin 1950: "Anerkennung und Achtung bei allen Deutschen, wenn auch die Meute im Augenblick kläfft"


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