© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/05 08. April 2005

Gottes Schuldner
Ein legitimes Kind der Aufklärung: Vor 250 Jahren wurde Samuel Hahnemann, der Vater der Homöopathie, geboren
Gesa Steeger

Übersetzer sind an sich bescheidene Menschen. Ein solcher war auch Samuel Hahnemann, verhinderter Arzt in Sachsen, Vater von fünf Kindern und arm wie die Kirchenmaus. Aber was zuviel ist, ist zuviel: Da hatte doch der berühmte Arzt William Cullen aus England behauptet, Chinarinde helfe gegen Malaria, weil es den Magen stärke! Hahnemann übersetzte diese Weisheit, teilte sie aber keineswegs.

Statt dessen nahm er persönlich eine Portion Chinarinde und erlebte, daß sich bei ihm die Symptome der Malaria einstellten. Als der Anfall abgeklungen war, fügte er diese Entdeckung als ellenlange Fußnoten seiner Übersetzung bei. Dieser Selbstversuch im Jahr 1790 gilt als Geburtsstunde der Homöopathie, weil seither in Hahnemann die Idee reifte, Ähnliches mit Ähnlichem heilen zu können.

Allerdings: Hahnemann war weder der erste Arzt, der Selbstversuche durchführte, noch der erste, der die Ähnlichkeitsregel formulierte - und schließlich war seine heftige Reaktion auf Chinarinde insofern untypisch, weil er auf dieses Mittel allergisch reagierte.

Kritiker schließen daraus, die Homöopathie beruhe auf einem Irrtum und könne nur in einer mystischen Weltsicht überleben. Aber Hahnemann war alles andere als ein Mystiker, sondern ein legitimes Kind der Aufklärung. 1755 als Sohn eines Porzellanmalers geboren, wuchs er in Meißen auf. Der helle Kopf fand Förderer. Sie halfen ihm auf die Fürstenschule St. Afra und zum Medizinstudium in Leipzig. Das allzu theoretische Studium enttäuschte ihn allerdings. So ging er nach zwei Jahren nach Wien. Beim Leibarzt der Kaiserin, dem Freiherrn von Quarin, arbeitete er ein halbes Jahr im Spital der Barmherzigen Brüder: Praxis zur Genüge! Geldsorgen vertrieben ihn aus Wien. Hahnemann wurde Leibarzt, Bibliothekar und Numismatiker beim Statthalter in Siebenbürgen.

Da aber Hermannstadt keine Universität hatte, zog er 1779 nach Erlangen, um sein Studium abzuschließen. In nur einem Semester schusterte er seine Doktorarbeit zusammen - und stand auf der Straße. Sein Weg führte ihn in 25 Jahren der Wanderschaft durch 20 Orte in Nord- und Mitteldeutschland - immer auf der Suche nach einer befriedigenden Anstellung. Er arbeitete als Arzt, Chemiker und Pathologe, als Forscher, wissenschaftlicher Schriftsteller - und als Übersetzer. Er entwickelte das auflösliche Quecksilber (Mercurius solubilis Hahnemanni) und die hahnemannsche Weinprobe, mit der man giftigen Bleizucker im Wein nachweisen kann. Hahnemann war fleißig. Er schrieb über Steinkohle, Arsen und Schwangerschaftsverhütung. Und er hatte Courage. So wagte er es, den Leibarzt des verblichenen Kaisers öffentlich zu bezichtigen, Leopold II. durch allzu häufigen Aderlaß in eine noch bessere Welt befördert zu haben.

Als aufgeklärter Mensch engagierte er sich für die psychisch Kranken. Der Herzog von Gotha stellte ihm 1792 sein Jagdschloß zur Verfügung, um dort eine "Genesungsanstalt für etwa vier irrsinnige Personen aus vermögendem Hause" einzurichten. Einziger Patient blieb der Dichter Friedrich Arnold Klockenbring aus Hannover. Obwohl Klockenbring schon 1793 als geheilt entlassen wurde, blieb weitere Kundschaft aus. Spötter witzelten, Hahnemann sei nun wohl der einzige Narr in Georgenthal. Jahre später sollte ihm die Heilung des tobsüchtigen Dichters Johann Karl Wenzel nicht gelingen.

Immerhin war Hahnemann nicht allein: Auf seiner Odyssee begleitete ihn Henriette Küchler, Tochter eines Apothekers. Hahnemann beschreibt sie als edle Gefährtin, einer seiner Schüler zeichnet sie als keifende Xanthippe. Vielleicht war sie das eine und wurde das zweite: Allein in den Jahren 1784-1790 gebar sie fünf Kinder. Hahnemanns Mutter mahnte ihren Sohn brieflich, seine Frau zu schonen, aber bis 1806 zeugte er noch sechs weitere Kinder.

1805 ließ sich Hahnemann endlich einmal für längere Zeit nieder. In Torgau baute er sich eine gutgehende Praxis auf. Zugleich fand er Ruhe zum Forschen. Seit dem Chinarinden-Experiment von 1790 ließ ihn die Idee nicht mehr los, daß ein Medikament, das bei einem Gesunden eine Krankheit auslöse, fähig sei, genau diese Krankheit bei einem Kranken zu heilen. Er führte etliche sogenannte "Arzneimittelprüfungen" an sich und seiner Familie durch und scheute sich nicht, zu Forschungszwecken substanzlosen Milchzucker zu vergeben. Man darf ihn also durchaus rühmen, den Doppelblindversuch erfunden zu haben, ohne den heute kein neues Medikament zugelassen wird.

Dabei stieß er auf ein Dilemma: Gab er Substanzen in Reinform, drohte Vergiftung, verdünnte er sie, verloren sie an Wirkung. Hahnemanns Lösung bringt heute noch jeden Apotheker auf die Palme: Er verdünnte die Medikamente schrittweise, doch mit jeder Verdünnungsstufe wurden sie entweder in reinem Milchzucker eine festgelegte Zeit verrieben oder in reinem Alkohol (oder Wasser) mit einer Anzahl abgezählter Schläge verschüttelt, "potenziert".

Es gibt C- und D-Potenzen, wobei die Verdünnung der D-Potenz 1:10 und der C-Potenz 1:100 beträgt. Die Zahl nach dem Buchstaben gibt an, wie oft diese Verdünnung durchgeführt wurde. Ab C 12 ist kein Atom der Ursprungssubstanz im homöopathischen Medikament mehr nachweisbar. Hahnemann arbeitete meist mit C 30 oder C 200, in seinen späteren Jahren sogar mit L-, M- oder Q-Potenzen, die eine Verdünnung von 1:50.000 aufweisen.

Für die neue Lehre fand Hahnemann den Namen "Homöopathie". Ihre Grundlagen stellte er 1810 in seinem Lehrwerk "Organon der Heilkunst" vor: Behandelt wird der Kranke, nicht die Krankheit. Als Medikament sind nur potenzierten Substanzen zugelassen, die vorher an Gesunden ausprobiert wurden. Konventionelle Methoden wie Aderlassen, Schröpfen oder das Verabreichen von Abführmitteln - vor diesem Stand der anerkannten Heilkunst muß man seine Arbeit sehen - lehnt er rundweg ab, ebenso wie die gerade aufkommende Pockenimpfung. Das Buch ist klein, die Sätze sind lang, die Fußnoten messen nach Seiten: kein ganz ungetrübtes Lesevergnügen.

1811 zog Familie Hahnemann nach Leipzig. Dort gelang es ihm tatsächlich, eine Lehrerlaubnis an der Universität zu erlangen. Seine Zuhörer kamen eher des Unterhaltungswertes wegen: So langatmig Hahnemann schrieb, so sarkastisch attackierte dieser Kauz die Kollegen. Auf Dauer aber blieb ihm nur eine kleine Schar von Hörern- unter ihnen kein promovierter Mediziner.

Größeren Erfolg hatte er als Praktiker während des Fleckfiebers von 1813. Von seinen 180 Patienten soll nur eine alte Frau gestorben sein. Aber diese 179 Heilungen zählten wenig gegen das Pech mit einem großen Mann, dem Fürsten Schwarzenberg. Es gelang ihm nicht den Schlaganfallpatienten zu heilen. Ein verlorener Rechtsstreit mit den Apothekern von Leipzig tat ein übriges: Hahnemann suchte das nicht Allzuweite und wurde 1821 Leibarzt des Herzogs von Anhalt-Köthen.

In Köthen verfaßte er ein besonders umstrittenes Werk, "Die chronischen Krankheiten. Ihre eigenthümliche Natur und homöopathische Heilung". Darin beschäftigte er sich mit dem Dilemma, daß er seinen Patienten zwar bei einer akuten Krankheit helfen, sie aber nicht auf Dauer heilen könne. Hahnemann fand eine Erklärung in seiner Theorie der "Erbbelastung" - Krankheiten, die über Generationen hinweg nachwirken.

Verdünnter Kampferspiritus - gerührt, nicht geschüttelt

1830, im Todesjahr seiner Henriette, brach die Cholera in Europa aus. Hahnemann erwies sich wieder als guter praktischer Arzt. Allerdings nicht unbedingt im homöopathischen Sinne: Er reichte mit heißem Wasser verdünnten Kampferspiritus - gerührt und nicht geschüttelt! Die Wirksamkeit von Kampfer gegen Cholera blieb bis heute ungeklärt. Möglicherweise war diese Methode nur deshalb so erfolgreich, weil sie den Patienten vor dem Austrocknen bewahrte.

Eine drollige Wendung nahm Hahnemanns streng geregeltes Leben, als er mit nahezu achtzig Jahren die 35jährige französische Malerin Mélanie d'Hervilly heiratete. Zuerst versorgte er die unverheirateten, verwitweten oder geschiedenen Töchter, dann zog er nach Paris. Dort wurde aus dem disziplinierten Kauz ein kunstsinniger Mann, der sein Leben genoß. Seine Praxis besuchten Clara Wieck und Niccolo Paganini.

Bis zu seinem Tod überarbeitete und ergänzte er seine Schriften. Dabei ging er immer häufiger nicht nur mit seinen Feinden, sondern auch mit seinen Schülern ins Gericht, wenn sie seine Lehre nicht buchstabengetreu beachteten. Immer noch suchte der Chemiker das Wirkprinzip der Homöopathie zu finden, auch wenn er resigniert den naturwissenschaftlichen Beweis zugunsten der Empirie aufgeben mußte.

Als sich im Frühjahr 1842 sein jährlicher Bronchialkatarrh zu einer Lungenentzündung auswuchs, fügte er sich in den Tod: "Gott schuldet mir nichts, ich schulde ihm alles."

Foto: Samuel Hahnemann: Der Chemiker resignierte vor der Empirie


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