© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/05 08. April 2005

Bald sind die Meere leer
Der Journalist Hans-Peter Rodenberg weist in seiner informativen Darstellung über den Raubbau an den Ressourcen der Meere auch auf Zeichen der Umkehr hin
Marcus Schmidt

Eine Woche, nachdem der verheerende Tsunami die Küsten Südostasiens heimgesucht und Hunderttausenden Menschen den Tod gebracht hatte, lief ein kleines Fischerboot in seinen Heimathafen auf Sri Lanka ein. Die Besatzung hatte auf hoher See nichts von der Katastrophe bemerkt; dort war die Todeswelle kaum mehr als eine leichte Dünung. Als die Fischer mit ihrem Fang an Land kamen, waren ihre Familien und Dörfer ausgelöscht. Das Meer, das ihnen bislang ein bescheidenes Leben ermöglicht hatte, hatte ihren Frauen und Kinder den Tod gebracht.

Auch wenn der aufgeklärte Mensch in dieser Sintflut keine Rache der Weltmeere erkennen will: Nach der Lektüre von Hans-Peter Rodenbergs Reportagesammlung "See in Not" kann man leicht zu der Überzeugung gelangen, daß es für die Ozeane zweifelsohne genügend Gründe gäbe, den Menschen mit einem solchen Paukenschlag auf ihren Zustand aufmerksam zu machen. Vielen ist nicht bewußt, wie es um die Weltmeere bestellt ist. Wie auch: Wer Fisch essen will, greift im Supermarkt in die gut gefüllte Tiefkühltruhe - Seelachs aus Alaska, Garnelen aus Thailand, Thunfisch aus dem Pazifik, Lachs aus Norwegen und natürlich Fischstäbchen. Das Meer ist weit und tief, warum sollte da der Nachschub ausbleiben?

Der Journalist Hans-Peter Rodenberg wirft in seinem Buch einen buchstäblich weltumspannenden Blick auf dieses empfindliche Ökosystem, das noch immer die größte Nahrungsquelle des Planeten ist und tagtäglich vom Menschen rücksichtslos ausbeutet wird, als gäbe es keinen Morgen. Rodenberg macht von Anfang an unmißverständlich klar, daß die Zeit abläuft. Er stellt seinem Buch eine alarmierende Prognose voran: Wahrscheinlich sind wir die letzte Generation, die noch Thunfisch, Barsch und Kabeljau auf der Speisekarte findet.

Anhand der 18 in dem Band versammelten, äußerst lebendig geschriebenen Reportagen aus allen Meeresregionen der Welt versucht Rodenberg eine Bestandsaufnahme. Er spart dabei die abschreckenden Beispiele menschlicher Profitsucht ebensowenig aus wie die ermutigenden Zeichen der Umkehr - seien es die Jagd auf Wale, Haifischflossen oder aber die umsorgten Hummer vor Helgoland und die vormodern anmutende Handleinenfischerei an der Küste von Cornwall. Wie ein roter Faden zieht sich dabei die Frage nach einem gedeihlichen Zusammenleben von Mensch und Natur durch die Kapitel, die teilweise auch als TV-Reportagen von Spiegel-TV im Fernsehen gezeigt worden sind. Angesichts der durchweg eindrucksvollen Bilder, mit denen das Buch illustriert ist, wünscht man sich, daß der Verlag dem Band ein deutlich größeres Format spendiert hätte, zumal einige Abbildungen über die Größe einer Briefmarke nicht hinauskommen.

Welche Vielfalt die Meere dem Menschen noch immer bieten, zeigt Rodenberg beispielhaft anhand eines Streifzuges über den weltgrößten Fischmarkt in der japanischen Hauptstadt Tokio. Japan ist zugleich das beste Beispiel für die Abhängigkeit des Menschen vom Meer - und für die rücksichtslose Ausbeutung der Ressourcen. Die Japaner verspeisen in rauhen Mengen alles, was sich im Wasser bewegt: von Thunfischen und Walfleisch über Krebse bis hin zu Seetang und Algen. Die enge Verbindung der Inselbevölkerung mit dem Meer und seinen Erzeugnissen hat nicht nur geographische - kein Ort der Inseln liegt weiter als 150 Kilometer vom Meer entfernt -, sondern auch kulturelle Wurzeln. Erst im Jahre 1873 wurde hier das buddhistische Verbot aufgehoben, Fleisch zu essen. Die Bedeutung des Meeres für die japanische Kultur erklärt auch die Vehemenz, mit der immer noch am Walfang festgehalten wird. Rodenberg schildert einen besonders bizarren Ausdruck der japanischen Hingabe an das Meer: die Vorliebe für Kugelfische. Eine Vorliebe mit Risiken: Bis 1969 starben jährlich etwa 200 Menschen nach dem Verzehr dieser hochgiftigen Fische. Erst nachdem die Ausbildungsvorschriften für die Fungu-Köche verschärft wurden, sank die Todesquote deutlich.

Doch nicht nur für Japan ist die Bedeutung von Fischen und Meeresfrüchten immens. Der Pro-Kopf-Verbrauch ist bei steigender Weltbevölkerung weitgehend konstant geblieben - mit der Folge, daß der Mensch den Meeren mittlerweile Jahr für Jahr neunzig Millionen Tonnen Fisch und Meeresfrüchte abringt. Allein in Europa sind auch heute noch zirka 800.000 Menschen in der Fischerei beschäftigt. Dabei ist die Hochseefischerei in den vergangenen Jahrzehnten dank modernster Technik immer effektiver geworden. Mit verheerenden Folgen für die Fischbestände, die überall auf der Welt vor dem Kollaps stehen.

Längst aber hat, wie Rodenberg an dem Beispiel der Fischerei vor den Küsten Alaskas zeigt, das Umdenken begonnen. Vor allem in Nordamerika und Europa hat man erkannt, daß nur eine nachhaltige Fischerei die Bestände auf Dauer vor dem Kollaps bewahren kann. Scharfe Kontrollen der Fangquoten, wie sie bereits heute vor Alaska durchgesetzt werden, machen das industrielle Fischen auch in Zukunft möglich. Nachhaltigkeit ist auch hier das Zauberwort. Für den Verbraucher ist die Kehrtwendung mit steigenden Preisen verbunden. Aber wie an Land gilt auch auf dem Meer: Gutes Essen kann nicht billig sein.

Eine Möglichkeit, sicherzustellen, daß der Mensch auch in Zukunft auf das Meer als Nahrungslieferant zurückzugreifen kann, bieten - neben der Schonung der natürlichen Ressourcen - die sogenannten Aquakulturen. Schon heute werden etwa Lachse zu Abertausenden in den Fjorden Norwegens in Käfigen gezüchtet. Die Massentierhaltung zu Wasser hat dem Edelfisch längst den zweifelhaften Titel "Huhn der Meere" eingebracht. Denn der ungestillte Appetit der Menschen auf Meeresprodukte und das Profitstreben der Unternehmer führen häufig zu überfüllten Zuchtbecken, deren Populationen ein leichtes Opfer für Krankheiten sind. Und so sorgt in den norwegischen Lachsfarmen die chemische Industrie nicht nur für die richtige Farbe des Fleisches. Nur mit Chemikalien können die Züchter sicherstellen, daß nicht der gesamte Zuchtbestand von Epidemien dahingerafft wird. Offenbar mit einigem Erfolg: Meeresprodukte sind auf dem besten Wege, dem Nordseeöl als Haupteinnahmequelle des Landes den Rang abzulaufen.

"See in Not" informiert facettenreich über den Zustand der Meere, ohne dabei ständig an das schlechte Gewissen des Lesers zu appellieren. Daher vergeht einem bei der Lektüre nicht gleich der Appetit auf Fisch. Auch wenn man nach dem Lesen unter Umständen das eine oder andere Lachsbrötchen liegen läßt. Das Buch räumt darüber hinaus mit einigen hartnäckigen Legenden auf, etwa, daß es sich bei den vor allem bei Kindern beliebten Fischstäbchen um Resteverwertung handele. Und ganz nebenbei klärt das Buch die Frage, warum der sagenumwobene Krill gut gegen Falten ist, aber kaum die Ernährung der wachsenden Weltbevölkerung sicherstellen kann.

Foto: Kabeljaufang vor 1970: Bald nicht mehr auf der Speisekarte

Hans-Peter Rodenberg: See in Not. Die größte Nahrungsquelle des Planeten: eine Bestandsaufnahme. Mare Buchverlag, Hamburg 2004, 303 Seiten, zahlreiche Abb., 29,90 Euro


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