© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/05 15. April 2005

In jeder Lage obenauf
Die Widersprüche des Richard von Weizsäcker
Doris Neujahr

Die Rede, die der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 im Bundestag zum 40. Jahrestag des Kriegsendes hielt, wirkt bis heute nach. Der 8. Mai 1945 sei ein "Tag der Befreiung" gewesen, sagte er, und: "Das Geheimnis der Erlösung ist die Erinnerung." Er meinte jenes Erinnern, das sich in Berlin gerade seine eigenen Denkmäler setzt.

Die Rede war bewußt als nationalpolitischer Kotau angelegt. Der Sohn von Ribbentrops Staatssekretär im Auswärtigen Amt wußte genau, daß die Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs nicht so simpel und monokausal verlaufen war, wie er behauptete. Seine Rede lag im Schnittpunkt von verordneter Siegermoral und dem Willen, selber auf jeden Fall oben zu bleiben. Dafür opferte er die historische Faktizität dem Zeitgeist. Anders der österreichische Bundespräsident Kurt Waldheim. Der hatte zur selben Zeit den Canossa-Akt verweigert und war daraufhin unter Vorwänden als öffentliche Person vernichtet worden.

Vorwände für eine Kampagne hätten sich auch bei Weizsäcker gefunden. Sein Vater war 1949 im "Wilhelmstraßenprozeß" zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden, weil er auf dem Amtsweg Kenntnis von Judendeportationen aus Frankreich genommen hatte. Die Verweigerung der Unterschrift wäre eine folgenlose Märtyrergeste gewesen, verteidigte sich Ernst von Weizsäcker, auch habe er an einen Arbeitseinsatz geglaubt. Das Gegenteil war unbeweisbar.

Doch Chefankläger Robert Kempner wollte ihn partout an den Galgen bringen. Einem Zeugen drohte Kempner mit der Auslieferung an die Russen, falls er keine belastende Aussage mache. Die Verteidigung befand sich in Notwehr und präsentierte ihrerseits präparierte Zeugen und Dokumente. Das zuständige Faktotum war - Richard von Weizsäcker.

Um eine Begnadigung zu erreichen, zog die Familie den amerikanischen Anwalt Thurman Arnold hinzu, einen Freund des Hochkommissars John McCloy. Arnold verwies auf die Deportationen von Japanern in den USA, die nach Kriegsausbruch in Konzentrationslagern festgehalten wurden, gleichgültig, welche Staatsbürgerschaft sie besaßen.

Arnold behauptete, daß diese Deportationen denen vergleichbar seien, für die Weizsäcker sen. verurteilt worden war. Die Juden in Frankreich seien als Sicherheits- und Partisanenrisiko für die Wehrmacht angesehen worden. "Vereinbarungen zwischen alliierten Ländern über die Deportation von Staatsbürgern, die ein Sicherheitsrisiko darstellten, oder zu Arbeitszwecken während eines Krieges werden vom Internationalen Recht nicht als verurteilungswürdig angesehen." So habe es Vereinbarungen zwischen den USA und südamerikanischen Staaten über die Deportation deutschstämmiger Bürger in US-Lager gegeben. Zudem hätten die Alliierten selber die Deportation der Deutschen aus Ostdeutschland und Osteuropa angeordnet. Kurz darauf befahl McCloy die Haftentlassung Ernst von Weizsäckers.

Sein Sohn hat sich zu dem Widerspruch zwischen privater Verteidigungsstrategie und seinen öffentlichen Äußerungen nie erklärt. Das mußte er freilich auch nicht. Die 8.-Mai-Rede machte ihn sakrosankt. Der Versuch, den Widerspruch aufzulösen, hätte zu einer ehrlicheren Diskussion über Vergangenheit und Gegenwart führen können, doch dafür seine politische Karriere zu riskieren, fehlte Richard von Weizsäcker die Größe.

Am 27. April 1987 wurde Waldheim vom US-Justizministerium auf die "watchlist" gesetzt, womit er endgültig erledigt war. Weizsäcker erhielt am 11. Juni 1987 von der Harvard-Universität die Ehrendoktorwürde. Eine vergangenheitspolitische Kampagne, die einzelne Professoren gegen ihn loszutreten versuchten, verebbte, auch dank des Einsatzes des "dienstältesten Rabbi von Cambridge" (Friedbert Pflüger), der Weizsäcker einen "guten Mann" nannte.

In seinen Memoiren erwähnt Weizsäcker seinen weniger raffinierten, dafür ehrenhaften Amtskollegen aus Wien nur ein einziges Mal. Süffisant schildert er, wie er 1990 Fotos von einer "Begrüßungshalbumarmung" des "nicht eben beliebten" Waldheim mit Vaclav Havel verhindert hat.

Falls Weizsäcker glaubt, daß seine unsaubere Erinnerungsarbeit zum Geheimnis seiner Erlösung wird, irrt er gründlich. Über den flamboyanten Romanhelden Paul Arnheim heißt es bei Robert Musil: "Er besaß das Talent, niemals in etwas Nachweisbarem und Einzelnem überlegen zu sein, wohl aber durch ein fließendes und jeden Augenblick sich aus sich selbst erneuerndes Gleichgewicht in jeder Lage obenauf zu kommen, was vielleicht wirklich die Grundfähigkeit eines jeden Politikers ist, aber Arnheim war außerdem davon überzeugt, daß es ein tiefes Geheimnis sei." Am 15. April wird Deutschlands bedeutendster Mann ohne Eigenschaften 85 Jahre alt.


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