© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/05 15. April 2005

Aus der Hüfte geschossen
Micha Brumliks Buch über die Vertreibung offenbart dramatische Lücken, die mit Meinung kompensiert werden
Jörg Bernhard Bilke

Dieses Buch hält nicht, was es verspricht! Es geht weit weniger um die "Vertreibung der Deutschen" als um eine weitschweifige Auseinandersetzung mit Vertreibung und Völkermord im 20. Jahrhundert, von der Vernichtung der anderthalb Millionen Armenier durch die Türken im Ersten Weltkrieg bis zu den Bürgerkriegen vor zehn Jahren auf dem Balkan, wo Serben, Kroaten und Albaner einander umbrachten. Und schließlich ist dieses vom skandalträchtigen früheren stellvertretenden Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, Michel Friedman, edierte und herausgegebene Buch, das auf dem Umschlag als "Streitschrift für eine verantwortungsvolle Erinnerungskultur" ausgegeben wird, auch eine Kampfansage an Erika Steinbach, die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen in Bonn, und ihr in Berlin geplantes Zentrum gegen Vertreibungen.

Wer Micha Brumlik, der, 1947 in der Schweiz geboren, heute als Pädagogikprofessor und zugleich Direktor des Fritz-Bauer-Instituts in Frankfurt/Main wirkt, bei der Vorstellung seines Buches am 22. Februar im thüringischen Gera erlebt hat, wo er im Auftrag der grünen Heinrich-Böll-Stiftung auftrat, der merkte spätestens bei der Diskussion, daß er von dem Thema, das zu behandeln sein Buch vorgibt, wenig versteht. Auch deshalb, weil er sich, wie die Liste seiner zwischen 1991 und 2004 veröffentlichten Bücher ausweist, noch nie mit dem Thema "Flucht und Vertreibung" beschäftigt hat, kommt dem Leser dieses Buch vor wie eine Auftragsarbeit zum 60. Jahrestag des Kriegsendes.

Ein Blick in das dritte Kapitel "Das deutsche Kriegstrauma in der Literatur" verrät seine Unkenntnis oder, um es schärfer zu fassen, seine gewollte Unbelesenheit in dieser Literatur. Zum Thema "Flucht und Vertreibung", wozu es mittlerweile eine wahre Flut von Romanen und Erzählungen, von Hörspielen und Filmen gibt, ganz zu schweigen von den mehrteiligen Dokumentationen des Fluchtgeschehens im Fernsehen, fallen ihm nur die beiden umstrittenen Erzählungen von Günter Grass "Unkenrufe" (1994) und "Im Krebsgang" (2002) ein. Von Marion Gräfin Dönhoff kennt er nur das autobiographische Buch "Kindheit in Ostpreußen" (1988), nicht aber die in diesem Kontext aufschlußreichere Fluchtbeschreibung "Namen, die keiner mehr nennt" (1962). Hans Graf Lehndorffs "Ostpreußisches Tagebuch" (1961) kennt er, auch Christian Graf von Krockows Schilderungen "Begegnung mit Ostpreußen" (1993), nicht aber dessen hier ungemein wichtigeres Buch "Die Stunde der Frauen" (1988).

Leider kann man sich zweier Eindrücke nicht erwehren: Es war dem Autor zu mühsam und hätte wohl auch jahrelanger Vorbereitung bedurft, sich einen Überblick über die Literatur zum Jahrhundertthema "Flucht und Vertreibung" zu verschaffen; also mußte er, um überhaupt mitreden zu können, eine Auswahl aus dieser Literatur treffen, und er wählte so aus, daß seine Argumentation gestützt und nicht widerlegt wurde.

Auch die Liste der verwendeten Literatur läßt diese Vorgehensweise erkennen: Helga Hirschs aufwühlender Bericht "Die Rache der Opfer" (1998) über "Deutsche in polnischen Lagern 1944-1950" ist ihm unbekannt. Wenn er auf die Zwischenkriegszeit 1918/39 und das sudetendeutsch-tschechische Verhältnis zu sprechen kommt, sollte man erwarten, er hätte sich durch das Studium von Geschichtswerken kundig gemacht. Aber die beiden Standardwerke zum Thema von Fritz Peter Habel "Die Sudetendeutschen" (1992) und von Friedrich Prinz "Böhmen und Mähren" (1993) sind nirgendwo verzeichnet. Die großen Romane und Romanzyklen von Horst Bienek (Schlesien), Christine Brückner (Pommern), Siegfried Lenz und Arno Surminski (beide Ostpreußen) werden nirgendwo genannt. Statt dessen gewinnt für Micha Brumlik der Roman "Die Barrings" (1930) des Ostpreußen William von Simpson (1881-1945) ungeheure Beweiskraft, weil hier angeblich der nahende Untergang Ostpreußens vorgeformt gewesen sei.

Im zweiten Kapitel seines Buches, das nach der Einleitung sechs Kapitel umfaßt, geht Micha Brumlik zum Angriff gegen den Bund der Vertriebenen über. Er bietet einen kursorischen Überblick zur Geschichte des Bundes von der Charta der Heimatvertriebenen (deren Namen er nur einmal richtig zitiert!) bis zum Zentrum gegen Vertreibungen und verschweigt auch nicht, daß er selbst einmal dem wissenschaftlichen Beirat des Zentrums hätte angehören sollen, dann aber verzichtet habe, weil Steinbach sich nicht von ihrem "nationalkonservativen Umfeld" habe lösen wollen.

Dann zerlegt er, was Ralph Giordano schon vor ihm in seinem Buch "Die zweite Schuld" (1987) gründlicher unternommen hat, die Charta und nennt sie "historisches Dokument einer Über- gangsepoche", was den Aussagewert eines Satzes hat wie "Wasser ist naß". Und schließlich "entlarvt" er die NSDAP-Mitglieder unter den Unterzeichnern vom 5. August 1950 und meint, das "heimliche Motiv" der Gründung des Zentrums sei "die Konkurrenz mit dem Gedenken an die Opfer der Shoah" gewesen. Wenn man dieses Kapitel durchgearbeitet hat, steht man wie benommen da und kann aus Brumliks Beweisführung nur folgern: Was immer auch Steinbach sagt und tut oder nicht sagt und nicht tut, ist aus seiner Sicht falsch, schädlich und verwerflich.

Während er im ersten Kapitel "Flucht und Vertreibung" noch auf das Kriegsende 1945 eingeht und auch das sowjetrussische Massaker vom 19. Oktober 1944 in Nemmersdorf nicht verschweigt, führen die drei restlichen Kapitel weit weg vom vorgegebenen Thema bis zu "ethnischen Säuberungen in Palästina". Wegen der Anhäufung von psychologischem, soziologischem und theologischem Fachvokabular sind sie über weite Strecken unlesbar.

Man muß zugeben, ein anderes Buch erwartet zu haben, und ist enttäuscht. Erwartet hätte der Leser, tritt Micha Brumlik doch als entschlossener Linker auf, der immerhin vier Jahre für die Grünen im Frankfurter Stadtrat saß, eine gründlichere Einarbeitung ins Thema. Er hätte auch nach den Motiven fragen müssen, die Altlinke wie Ralph Giordano und Peter Glotz dazu brachten, im Zentrum gegen Vertreibungen mitzuarbeiten. Er hätte fragen müssen, warum Daniel Cohn-Bendit und Helga Hirsch sich zu Mitgliedern der Jury für den Franz-Werfel-Menschenrechtspreis haben wählen lassen. Das unterläßt er, er greift lieber da an, wo er offene Türen einrennen kann.

Foto: Micha Brumlik in lockerer Pose: Gewollte Unbelesenheit in der Literatur zum Thema Flucht und Vertreibung

Micha Brumlik: Wer Sturm sät. Die Vertreibung der Deutschen. Aufbau Verlag, Berlin 2005, 300 Seiten, broschiert, 18,90 Euro


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