© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/05 22. April 2005

Das Wahre ist das Schöne
Dem Bild sei Dank: In der Sixtinischen Kapelle sind die Geheimnisse des Glaubens veranschaulicht
Eberhard Straub

Ohne die Sixtinische Kapelle gesehen zu haben, kann man sich keinen anschauenden Begriff machen, was ein Mensch vermag. Man hört viel von großen und braven Leuten, aber hier hat man es noch ganz lebendig über dem Haupte, vor den Augen", schrieb der von der schieren Masse überwältigte Goethe seinen Freunden in Weimar. Michelangelo hatte allein, ohne Hilfe von Lehrlingen oder fortgeschritteneren Mitarbeitern, zwischen 1509 und 1512 die Fresken an der Decke gemalt, und später - von 1536 bis 1541 - das Jüngste Gericht über dem Altar.

Die monumentalen Bilder gaben schon zu Lebzeiten Michelangelos selbst kenntnisreichen Theologen und Kunstfreunden einige Rätsel auf. Dabei war es längst eine Gewohnheit unter gebildeten Malern und ihrem gebildeten Publikum geworden, die Bedeutung der Bilder möglichst dem profanen Zugriff zu entziehen und das Geheimnis des Glaubens in Geheimnisse zu hüllen, die sich nach und nach dem geduldig Sinnenden und Meditierenden enthüllen.

Die Sixtinische Kapelle war nur für den Papst und seinen Hof bestimmt für Messen und Andachten im engsten Kreis. Wer dazugehörte, ob Kleriker oder Laie, war durchaus darin geübt, Bilder mit subtilsten theologischen Kombinationen geistreich zu durchdringen und sich zu entschlüsseln. Denn das Rom der angeblich verweltlichten oder fast heidnischen "Renaissancepäpste" - eine protestantische und dann liberal-bürgerliche Legende - war eine Zeit großer Theologen und trotz ihrer politischen und ästhetischen Absichten spiritueller Päpste.

Eine neue und sehr persönliche Frömmigkeit, verbunden mit humanistisch-historischer Bildung, gelangte aus den vornehmen Kreisen über Predigten und italienische Traktate in das gemeine Christenvolk. Eine Christianitas, die sehr abstrakte Spekulation und volkstümliche Religiosität vermittelnd umschloß, verband das reine Denken mit der lebhaften Volksreligiosität und bewahrte diese vor Eigenwilligkeiten und abergläubischen Auswüchsen. Ein großer Ernst erfüllte dieses scheinbar verspielte und anmutige Rom.

Michelangelo war von den erneuernden religiös-theologischen Einflüssen ergriffen worden. Er beherrschte nur unzulänglich Latein, aber die Theologen schrieben nun auch auf italienisch, und seit seiner Jugend in Florenz, damals noch ein Dandy avant la lettre, hatte er Umgang mit Humanisten, die zugleich enthusiastische Theologen waren.

Der Enthusiasmus war unentbehrlich bei einer Religion wie der christlichen, die lehrt, daß Gott und die Schönheit ein und das gleiche ist. Das Wahre ist zugleich das Schöne, und das Böse und Nichtige das Häßliche. In der Begeisterung für das Schöne drückt sich die Ergriffenheit durch das Wahre aus, durch den Christus, der die Wahrheit und damit das Leben ist. Wohingegen im Häßlichen die Lüge und die Bosheit wirkt, freilich oft verführerisch beleuchtet von der Sonne Satans. Wenn das Wort Fleisch geworden war, die Idee als Gestalt in der Welt erschien, dann mußten unweigerlich Bilder gefunden werden, um den Geheimnissen des Glaubens und des mystischen Leibes Christi, seiner Kirche, zur überzeugenden Erscheinung zu verhelfen.

Nicht das Wort allein sagt alles, wie Luther behauptete. Das Wort braucht die Gestalt, das Bild, um als erscheinendes Wesen mitten in der Welt als Geschichte, in der Welt der Heilsgeschichte zu wirken. Goethe ästhetisierte solche Erwartungen: "Der Schein, was ist er, dem das Wesen fehlt? / Das Wesen wär' es, wenn es nicht erschiene?" Aber der alte christliche Sinn, daß Wort und Bild sich ergänzen müssen, um das Geheimnis Gottes oder des Göttlichen zu veranschaulichen, ist in diesem Vers noch lebendig. Für Michelangelo wie für jeden christlichen Künstler ging es darum, das Tatsächliche, das Historische oder Gegebene zu schildern und zugleich dessen Bedeutung verständlich zu machen.

Denn nichts geschieht vom Anfang der Schöpfung an, wie die Theologen lehrten, das nicht in Beziehung steht zu dem großen Erlösungswerk, das mit den Worten begann: Es werde Licht. Welcher Theologe Michelangelo das Programm entwarf, das er malerisch umsetzte, ist umstritten. Entscheidend ist in seinem Falle allein, daß er ein beziehungsreiches Programm in eine so beziehungsreiche Bildersprache umsetzte, die manche seiner gelehrten Zeitgenossen ganz erheblich überforderte. Die Fresken Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle sind die monumentalste Vergegenwärtigung des Credo, des christlichen Glaubensbekenntnisses, das mit dem Schöpfer des Himmels und der Erde beginnt, zu dem Gericht des auferstandenen Christus führt, das er über Lebende und Tote hält, und mit dem Bekenntnis des Heiligen Geistes schließt, mit dem Glauben an diesen Lebensspender, der durch die Propheten gesprochen hat und durch die Kirche alle zum Leben führt.

Die Sixtinische Kapelle war nie dafür geplant, ein Raum für die Papstwahl zu werden. Erst seit die Päpste Rom verloren hatten, seit 1870, findet das Konklave der Kardinäle dort statt und nicht mehr im Quirinal. Aber es gibt keinen Raum in Rom, wo in so sinnfälliger Weise die Geheimnisse des Glaubens veranschaulicht wurden. Wenn die Kardinäle auf die Stimme ihres Gewissens, vom Heiligen Geist erleuchtet, lauschen, befinden sie sich in einer Umgebung, die mit mächtigen Bildern von der Wirksamkeit des Heiligen Geistes spricht, der seit Beginn der Schöpfung diese nicht verläßt und nicht an ihr verzweifelt. Mit der Schöpfung, der creatio dieser Welt, fängt bei Michelangelo alles an. Der Sündenfall verdirbt alles, aber die Rettung aus aller Not und Pein ist verheißen.

Die salvatio, die Rettung, ist eine wahre recreatio, eine Neuschöpfung, die sich in jedem einzelnen durch die Erlösungstat des Jesus ereignet, der der Christus ist: der Retter und Befreier, den Michelangelo als Divus Christus wie einen vergöttlichten Caesar Augustus im Jüngsten Gericht auftreten läßt. Die zum Himmel aufgefahrene Maria - der Annunziata ist die Kapelle gewidmet -, das Sinnbild der Kirche ihres Sohnes, schmiegt sich an ihn, die Maiestas des herrschenden und richtenden Sohnes damit hervorhebend.

Die Kardinäle wählen im Anblick dieses Christus, der wie kein Christusbild jemals wieder dem Erlöser, dem Richter und Befreier zu einer fast das Fassungsvermögen übersteigenden Gestalt verholfen hat. Dieses Bild erinnert sie daran, daß Christus herrscht, daß Christus siegt, daß er alles überwindet, was ihm widersteht. Das kann ihnen Mut machen, den auch Kirchenfürsten brauchen, Mut, sich auf den Heiligen Geist zu verlassen.

Bilder: Michelangelo, Deckenfresko zur Schöpfungsgeschichte in der Sixtinischen Kapelle (1508/12): Mut, sich auf den Heiligen Geist zu verlassen, Pietro Perugino, "Christus übergibt Petrus den Schlüssel zum Himmelsreich" (1480/82)


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