© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/05 22. April 2005

Krieg der Philosophen und die Weltmission der Nation
Peter Hoeres untersucht die deutsche und britische Philosophie im Ersten Weltkrieg / Absage an einen kriegsstiftenden "deutschen Weg"
Dag Krienen

Das Stichwort "Ideen von 1914" hat es zu notorischer Berühmtheit gebracht, eignet es sich doch gar gut dazu aufzuzeigen, welchen verderblichen anti-westlichen "Sonderweg" die deutsche politische Kultur angeblich schon früh eingeschlagen habe. Es herrscht deshalb keine Mangelware an Untersuchungen über die Bemühungen deutscher Akademiker, im Weltkrieg von 1914 bis 1918 ihrem Vaterland geistigen Beistand zu leisten.

Die Möglichkeit, daß diese akademischen "Sinnproduzenten" auf einen Sonderweg auch ein wenig gestoßen worden sein könnten, ist hingegen bislang kaum ins Blickfeld geraten. Jedenfalls wurde, wie der Verfasser vorliegender Buchfassung einer Münsteraner Dissertation von 2002 feststellt, in der Forschung bis dato auch "bei einer derart polemischen Diskurs wie der Weltkriegsphilosophie immer nur auf eine der Parteien" eingegangen. Peter Hoeres hingegen will dieses Defizit zumindest auf dem Feld der Philosophie ausgleichen und "eine größere Studie zu den an vorderster Front im Gefecht stehenden Philosophen" versuchen, "die über ein Lager hinausgeht und auch den geistigen Kampf als das begreift, was er in seinem Innersten ist, nämlich ein länger andauernder Kampf zwischen zwei Kollektiven". Zu diesem Zweck untersucht er die "zwei sich gegenseitig als Hauptfeinde wahrnehmenden Deutungskulturen" im Ersten Weltkrieg, die akademische Philosophie in Großbritannien und Deutschland.

Das Ergebnis ist, um dieses vorwegzunehmen, mehr als beeindruckend. Natürlich mag man monieren, daß die Arbeit über weite Strecken nur oft ausführliche Darstellungen der von einzelnen Philosophen entwickelten Positionen zunächst aneinanderreiht und erst in den Schlußabschnitten zu den einzelnen thematischen Kapiteln ("Freund und Feind", "Staat", "Krieg" und "Frieden") vergleichend zusammenfaßt. Hoeres' akribische Detailarbeit macht aber erst die jeweils von den einzelnen Protagonisten entwickelnden Argumente vom größeren Zusammenhang ihrer allgemeinen philosophischen Orientierung und Schulzugehörigkeit her verständlich.

Durch Kriegspropaganda in die Defensive gedrängt

Dies schützt nicht nur davor, über selektiv wahrgenommene einzelne Zitate oder Schriften zu vorschnellen Urteilen, oder besser: Verurteilungen zu gelangen. Vielmehr entsteht ein überaus differenziertes Gesamtbild der deutschen und britischen Philosophie im Weltkrieg, das auch deutlich werden läßt, wie sehr der "Krieg der Philosophen" 1914 bis 1918 nicht nur zwischen den beiden Nationen, sondern auch in den nationalen Philosophenzirkeln selbst tobte. Zudem kann Hoeres mit altmodischer Gründlichkeit auch aufzeigen, wie sich die Positionen im Krieg verschoben und teilweise auch radikal veränderten.

Schon für die deutsche Seite allein ergeben sich dadurch wichtige neue Erkenntnisse. Die britische Seite des Buches erschließt für den deutschen Leser, auch für den philosophiegeschichtlich nicht ganz unkundigen, praktisch eine neue Welt. Daß es dem Verfasser gelingt, diese neue Welt mit dem schon etwas bekannteren, dennoch aber teilweise neu kartographierten Planeten der deutschen Weltkriegsphilosophie vergleichend zusammenzubringen - und das noch in einer, zumindest nach den Maßstäben philosophiegeschichtlicher Werke, recht gut lesbaren Form - ist eine Leistung, die man nicht genug würdigen kann.

Hoeres begreift die Polemik der britischen und deutschen Philosophen gegen die jeweils andere Seite konsequent zunächst als ein politisches Phänomen, und zwar im Sinne von Carl Schmitts Feststellung, daß sich jeder religiöse, moralische, ökonomische, ethnische oder andere Gegensatz in einen politischen Gegensatz verwandelt, wenn er stark genug ist, die Menschen nach Freund und Feind effektiv zu gruppieren. Hoeres geht davon aus, daß auch in der akademischen Philosophie in Großbritannien und Deutschland "der Umschlag eines nationalen und teilweise damit zusammenhängenden wissenschaftlichen Gegensatzes in ein politisches Freund-Feind-Verhältnis aufgezeigt (werden) kann" - allerdings nur als "Sekundärphänomen im Hinblick auf die politische Vorgabe des Krieges". Die Feindschaft, der "Krieg der Philosophen", wurde nicht durch unterschiedliche nationale philosophische Traditionen erzeugt, sondern durch die Tatsache, daß sich die beiden Nationen im August 1914 plötzlich im Krieg miteinander befanden und sich die "Sinnproduzenten" - Hoeres verwendet nicht diesen Ausdruck des Soziologen Helmut Schelsky, sondern spricht von "Deutungskultur" - auf die Suche nach Möglichkeiten machten, diesem immer schrecklichere Dimensionen annehmenden Krieg einen "höheren" Sinn als den einer banalen Machtkonkurrenz zu verleihen.

Dabei waren die Gewichte von Anfang an ungleich verteilt. Auf britischer Seite sah man sich in der Rolle des Verteidigers der "Zivilisation", des erreichten sittlichen Standes menschlich-staatlichen Zusammenlebens gegen einen barbarischen, das Sittengesetz negierenden Angreifer. Um hauptsächlich über die Perhorreszierung des Feindes die eigenen Kriegsanstrengungen legitimieren zu können, bedurfte es allerdings der Gewißheit, selbst auf dem richtigen Weg zu sein, also einer gefestigten, unhinterfragten nationalen Identität. Mit wenigen Ausnahmen waren sich die britischen Philosophen dieser gewiß.

Auf die deutsche Seite traf dies nicht zu. Dafür gab es auch weiter zurückreichende historische Gründe, auf die Hoeres leider nicht eingeht - Helmuth Plessners durchaus geistesgeschichtlich argumentierende "Verspätete Nation" hat er offensichtlich nicht rezipiert. Vor allem aber wurden 1914 die deutschen Philosophen, die sich bis dato als Vertreter eines der führenden Kulturvölker Europas verstanden hatten, durch den Vorwurf, einem wilden Hunnenhaufen bzw. einem amoralischen, expansionslüsternen Militär- und Machtstaat anzugehören, von Anfang an in die Defensive gedrängt. "Die Texte der deutschen Weltkriegsphilosophie werden" deshalb "in ihrem Antwortcharakter nur verständlich, wenn die britischen Anschuldigungen präsent sind". Die deutschen Philosophen wurden dazu genötigt, sich des "Sinnes unseres Kampfes" über eine Selbst- und Neudefinition der deutschen nationalen Identität zu vergewissern. Sie gingen auf die Suche nach spezifisch "deutschen Ideen", die nicht nur anders waren als die der anderen, sondern auch "besser".

Die Defensivposition, in die die deutschen Intellektuellen 1914 durch die feindlichen Anschuldigungen geraten waren, wurde von den Philosophen vor allem "durch Affirmation und Überhöhung der eigenen Nationsidee kompensiert"; die deutsche Weltkriegsphilosophie erhielt dadurch zwischen 1914 und 1918 einen "offensiv drapierten Antwort- und Selbstverständigungscharakter". Auf die universalistische britische Vorstellung von der Verteidigung der Zivilisation und die korrespondierende Verketzerung der Deutschen als universaler Bedrohung antworteten die meisten deutsche Philosophen 1914 mit Gegen-Universalismen. Das heißt, mit verschiedenen Entwürfen einer sich angeblich aus dem nationalen Wesen der Deutschen ergebenden spezifischen "Weltmission", die oft durchaus soweit ging, am deutschen Wesen dereinst die Welt genesen lassen zu wollen. Der Anspruch darauf, daß die eigene Nation eine sehr wichtige Funktion für das zukünftige Heil der Menschheit zu erfüllen hatte, wurde allerdings in den wenigsten Fällen als Legitimation direkter Herrschaftsexpansion entwickelt, der Sinn der deutschen Kriegsanstrengungen aber in den meisten Fällen nicht nur in der bloßen nationalen Selbstbehauptung gesehen, sondern zugleich auch in der Bewahrung und teilweise auch weltweiten Durchsetzung eines unverzichtbaren Wertes für die Menschheit.

Gegen einen imaginären geistigen Feind gekämpft

Wie auch immer aber dieser zum deutschen Wesenszug essentialisierte universale "Wert" oder diese "Idee" im einzelnen beschaffen war - ob es sich um die Rettung der Innerlichkeit, die deutsche Auffassung von staats- und pflichtgebundener Freiheit, die "soziale Organisation" oder einen ideellen Sozialismus handelte -,kriegerischen Sinn stiften konnten sie nur durch die Entgegensetzung zu einem für das Menschengeschlecht bedrohlichen geistigen Wesenszug des Feindes. Die von Hoeres zitierte (und auch von Carl Schmitt geschätzte) Zeile aus einem Gedicht Theodor Däublers tritt hier in ihr Recht: "Der Feind ist unsere eigne Frage als Gestalt".

So gerann im Krieg der Philosophen die britische Philosophie in deutscher Sicht zum Ausbund von anspruchslosem Utilitarismus, hedonistischem Individualismus und plattem Materialismus, die wiederum bei Obsiegen über die deutschen idealistischen Traditionen die Welt in geistig-seelische Verflachung, Kulturlosigkeit (in Gestalt einer seelenlosen "Zivilisation") und demokratisch-scheinheilige Plutokratie führen würde. Auf der anderen Seite hielten 1914 die Briten das deutsche Volk für verseucht durch den preußische Militarismus und das deutsche Denken durch die geistige Vorherrschaft eines "trio infernale", zusammengesetzt aus dem imperialistischen Militärschriftsteller Friedrich von Bernhardi ("Deutschland und der nächste Krieg"), dem prussophilen Historiker Heinrich von Treitschke und dem als amoralisch-rücksichtsloser Machtanbeter geltenden Friedrich Nietzsche. Die britischen Philosophen rationalisierten in diesem Zusammenhang zumeist ihre hergebrachte Achtung vor der deutscher Philosophie durch eine Zwei-Deutschland-Theorie, wonach es ursprünglich neben einem bösen, machtversessenen Deutschland auch ein zweites besseres und wertvolles gebe beziehungsweise gegeben habe, das durch Zerschlagung des militärischen vielleicht wiedererweckt oder wieder in den Sattel gesetzt werden könnte.

Diese wechselseitige Polemik darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß im "Krieg der Philosophen" beide Seiten weniger gegen einen realen als gegen einen imaginären, den jeweiligen Bedürfnissen gemäß zusammenkonstruierten geistigen Feind kämpften. Ein wirkliches Streitgespräch zwischen deutschen und britischen Philosophen fand im Krieg praktisch nicht statt. Wahrgenommen wurde nur der Vorwurf der Barbarei und das Propagieren einer deutschen Weltmission, als britische Heuchelei ("cant") auf der deutschen und als deutsche Überspanntheit und Weltherrschaftsanspruch auf britischer Seite.

Für Hoeres ist dieser kriegsbedingte nationale Autismus die eigentliche Tragödie im "Krieg der Philosophen". So feuerte man deutscherseits zwar immer wieder Breitseiten gegen den flachen britischen Utilitarismus und Materialismus eines Mills und Spencers ab, nahm aber beispielsweise die 1914 noch sehr einflußreichen britischen Idealisten ebensowenig wahr wie die Tatsache, daß diese wie auch die liberal-individualistisch Philosophen des Nachbarlandes zunehmend "ideell sozialistisch" argumentierten, was auf deutscher Seite teilweise als Essenz der "deutschen Idee" ausgegeben wurde. Umgekehrt übersah man auf britischer Seite, daß vor 1914 Bernhardi, Treitschke und Nietzsche in der deutschen Philosophie keineswegs Maßstäbe setzten, sondern weiterhin neoidealistische, aber zunehmend auch liberal-individualistische Philosophen das Feld beherrschten.

Die Differenzen innerhalb der jeweiligen nationalen Philosophenschar waren schon vor 1914 viel ausgeprägter gewesen als zwischen den nationalen Lagern. Auch im Krieg führte die nur von sehr wenigen durchbrochene nationale Solidarisierung nicht zu einer Uniformierung der philosophischen Lehrmeinungen. Weder ging der britische Idealismus unter, noch wurde die deutsche Philosophie vollständig rehegelianisiert oder gar nietzscheanisiert.

Die Chimäre des "deutschen Weges" wirkt bis heute fort

Ab 1917 lassen sich sogar auf bestimmten Feldern Konvergenzen erkennen, etwa in der vermehrten Hinwendung zur kantianischen Vorstellung eines friedenssichernden Völkerbundes oder einer Liberalisierung und zugleich Sozialisierung der Staatsauffassung sowohl bei britischen als auch deutschen Idealisten. 1914 bis 1918 nachweisbar ist zwar ein deutsches Sonderbewußtsein, das aufgrund der aufgezwungenen geistigen Defensive meist offensiv artikuliert wurde. Im "ideengeschichtlichen Vergleich" entpuppt sich dieses Sonderbewußtsein aber "im nachhinein weitgehend als Chimäre": "Nicht ein Sonderweg, nicht spezifisch nationale Philosophien sind im Ersten Weltkrieg auszumachen, sondern ein nationsübergreifendes Ringen um die sozialen und politischen Fragen der Moderne."

Das deutsche Sonderbewußtsein von 1914, einmal in die Welt getreten, verschwand 1918 nicht restlos und wurde ab 1933 wieder reaktiviert - ebenso wie spätestens 1939 die alten britischen Feindbilder eines zivilisationsbedrohenden angeblichen deutschen Sonderweges. Insoweit haben diese Chimären Wirkung entfaltet und tun dies noch bis heute. Wobei gewisse Muster von Sonderbewußtsein bei exponierten deutschen Vertretern der Sonderwegsthese sogar reproduziert werden können.

Jedenfalls vermerkt Hoeres mit einem Seitenhieb auf Habermas zum Abschluß seines Buches "deutliche Analogien (...) zwischen dem universalisierten Kulturnationalismus der Weltkriegsphilosophie und dem universalisierten Verfassungspatriotismus der Gegenwart" und ihrer jeweiligen Haltung zum Krieg. Doch hat auch hier dies wohl weniger mit realen nationalen Sonderwegen zu tun, sondern mehr mit dem unausweichlichem Zusammenhang von Ansprüchen auf eine universale Mission, Feinddiskriminierung und moralischer Kriegslegitimation.

Bild: Kriegspropaganda der Westalliierten zeichnet das Bild des bestialischen Deutschen: Defensivposition, in die die deutschen Intellektuellen 1914 durch die feindlichen Anschuldigungen geraten sind

Peter Hoeres: Der Krieg der Philosophen. Die deutsche und die britische Philosophie im Ersten Weltkrieg. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2004, 646 Seiten, geb., 78 Euro


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