© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/05 29. April 2005

Wer verhaftet ist, muß schuldig sein
Die eindringliche Gruppenbiographie des britischen Historikers Donald Rayfield über "Stalin und seine Henker"
Tim Schuster

Ein Kamel beantragt an der polnischen Grenze Asyl: 'In der Sowjetunion rottet man alle Hasen aus.' 'Aber du bist doch ein Kamel', sagt der Grenzwächter. 'Versuch du mal zu beweisen, daß du kein Hase bist!' erwidert das Kamel."

Treffender ist die schaurig-surreale Realität im Reich Lenins und Stalins kaum auf dem Punkt zu bringen als in diesem kleinen Gleichnis, daß der in London lehrende Osteuropa-Historiker Donald Rayfield dem Kapitel "Jeshows Blutbad" voranstellt, das zu den eindringlichsten Abschnitten seines bedeutenden Werkes über "Stalin und seine Henker" zählt.

Über das 1917 in Rußland etablierte kommunistische Terrorsystem, das bolschewistische Menschen-Schlachthaus, dem bis zu Beginn des Zweiten Weltkrieges mindestens zehn Millionen Menschen zum Opfer gefallen waren, gibt es gerade auf dem angelsächsischen Buchmarkt eine kaum noch zu überschauende Zahl von Veröffentlichungen. Nicht zu reden von dem seit 1990, nach der schrittweisen Öffnung der Moskauer Archive, unaufhaltsam wachsenden Berg der russischen Publikationen.

Das Herz der Finsternis, der Apparat der "Tscheka" (OGPU, NKWD bis zum KGB), ihre berüchtigte Folter- und Hinrichtungszentrale, das Lubjanka-Gefängnis in Moskau, ihr Lagersystem, der "Archipel Gulag", scheint dabei auf Historiker wie Leser eine besondere Faszination des Grauens auszuüben, was sich auch anhand von Rayfields Bibliographie belegen läßt, die eine stattliche Zahl neuerer Untersuchungen über das rote Terrorpersonal und seine Schinderstätten ausweist.

Insoweit kommt Rayfield vielleicht nur das Verdienst zu, ein im großen und ganzen bekanntes Pandämonium hier und da etwas präzisiert, um viele aus den Akten gewonnene Details bereichert und sicher auch russische Forschungen für ein westliches Publikum "übersetzt" zu haben. Wer das "Schwarzbuch des Kommunismus" oder die bislang unübertroffenen drei Bände von Alexander Solschenizyns "Archipel Gulag" noch frisch im Gedächtnis hat, könnte zu diesem Urteil neigen. Liefert Rayfield also nur eine Art Ergänzungsband zum "Archipel Gulag", trägt die archivalischen Ergänzungen und die Fußnotenbelege zum Werk des russischen Nobelpreisträgers nach?

Ja und nein. Die von Solschenizyn unter konspirativen Bedingungen, ohne den heute schon für selbstverständlich erachteten (aber auch im "System Putin" noch nicht westlichen Standards genügenden) Archivzugang gezeichnete und gleichwohl in den Grundlinien exakt fixierte "Topographie des Terrors" konnte von Rayfield tatsächlich nicht wesentlich revidiert werden. Um so auffallender ist, daß sein Vorwort zwar die wichtigsten der akademischen Matadore auf diesem Forschungsfeld würdigt, Alexander Ostrowski etwa oder Robert Conquest, dessen "Am Anfang starb Genosse Kirow" in der deutschen Ausgabe 1970 fast zeitgleich mit dem ersten Band des "Archipel Gulag" erschien - nicht aber Solschenizyn, von dessen Opus in der Bibliographie nur seine zwei jüngsten Bände über das russisch-jüdische Verhältnis zu finden sind.

Dies erstaunt nicht zuletzt deswegen, weil Rayfield als Erzähler, als Historiker in der Rolle des Dramaturgen, gar nicht zu übersehende Anleihen bei Solschenizyn macht. Man vergleiche nur einmal seine durchaus gelungene Nachahmung jener sarkastisch-höhnischen Intensität, die Solschenizyn Verfolgerkreaturen wie Stalins Chefankläger Nicolai Krylenko widmet, der bekanntlich stets den goldenen Regeln der Klassenjustiz folgte: "Wer verhaftet ist, muß schuldig sein" und: "Das Geständnis ist die Königin der Beweismittel". Rayfields Sezierarbeit, die Charaktere wie Genrich Jagoda und Nikolai Jeshow bis in deren sexualpathologische Randzonen verfolgt, kann damit durchaus konkurrieren.

Und dank dieser Porträtkunst, die sich auf die Tscheka-Gewaltigen Felix Dscherschinski, dessen Nachfolger, den "exquisiten Inquisitor" Wjatscheslaw Menshinski sowie die drei "großen Säuberer" und Genozidspezialisten Jagoda, Jeshow und Lawrentij Berija konzentrieren, gewinnt Rayfields Werk eine eigene Kontur, ist mehr als ein Appendix zu Solschenizyn oder Conquest.

Auch mit vielen der "kleineren" Mörder macht er uns bekannt. In wenigen scharfen Zügen schält er die Gestalt Viktor Semjonowitsch Abakumows heraus, eines prototypischen "Befreiers", zuständig für die Spionageabwehr in der Roten Armee (Smersh), der 1945 seinen Herrschaftsbereich bis an Elbe ausdehnte und in Stalins Auftrag "die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse vorbereitete" - ein Mann, der "zahlreiche Morde für Stalin organisierte" und dessen "Blockadeeinheiten" die Sowjetarmee von "Deserteuren, Selbstverstümmlern und Feiglingen" aller Art "säuberte", dessen Schergen die zurückeroberten Gebiete nach "Kollaborateuren" durchkämmten, um mit ihnen "kurzen Prozeß" zu machen.

Unvergeßlich auch das Schlaglicht auf den "Obervollstrecker" in der Lubjanka, Wassilij Blochin, während seines "Einsatzes" beim Massenmord an den in Katyn verscharrten polnischen Offizieren: "Blochin übernahm in seinem eigenen Lederschurz, Helm und Schutzhandschuhen den größten Part. Jeden Abend wurde an Merkulow in Moskau die Zahl telegraphiert." Nach dieser Metzgerei waren 8.500 polnische Offiziere tot - 18 Kaplane und der Oberrabbiner der polnischen Armee inklusive.

Rayfields Porträtgalerie wird eingebettet in die Geschichte des bolschewistischen Rußland, wobei weder Lenin noch Trotzki als das im Vergleich mit Stalin "kleinere Übel" für das "Sowjetvolk" erscheinen. An seiner Generalverdammung dieses blutigen "Experiments", das Ende der Geschichte herbeizuführen und dem "neuen Menschen" ein Paradies auf Erden zu bereiten, läßt Rayfield in keiner Zeile einen Zweifel.

Dabei scheut er auch vor politisch hierzulande eher unbequemen "Vergleichen" nicht zurück. So weist er nach, daß der NS-Staat niemals ähnlich totalitär war wie Stalins Reich, wo es schon nach dem Ausmorden der "Kulaken" 1932 nicht einmal mehr Reste einer oppositionellen "Zivilgesellschaft" gab, wie sie in Deutschland im Militär, Bürokratie, Kultur, Wissenschaft und Kirchen bis 1945 bestand. Den Massenmord an den Kulaken nennt Rayfield fast beiläufig "Auschwitz ohne Verbrennungsöfen".

Die erhebliche Mitverantwortlichkeit Stalins an den hohen sowjetischen Verlusten während des Zweiten Weltkrieges scheint für ihn unbestreitbar. Gegen die Modethese vom "Vernichtungskrieg" der Wehrmacht erinnert er daran, daß die Sowjets sich nicht an die Genfer Konvention gebunden fühlten und daß in Stalins Lagern etwa doppelt soviel deutsche Kriegsgefangene umkamen wie russische Gefangene in Deutschland. Zurückhaltend und auf die "herrschende Meinung" bedacht ist Rayfield nur bei der heiklen Frage nach "der dominierenden Rolle der Juden bei den Morden von 1918 bis 1921". Der "Judenanteil der Tscheka" könne zwar fraglos die Ansicht untermauern, "die Partei der Bolschewiki und ihr Zentralkomitee sei eine jüdische Clique". Doch zum einen müsse man dies als "ausgleichende Gerechtigkeit" und Reaktion auf die antijüdische Unterdrückungspolitik des Zarenregimes begreifen, andererseits sei "außer der Abstammung" an Sinowjew oder Trotzki eigentlich "sonst nichts jüdisch" gewesen. Im übrigen laufe die Erörterung dieser Thematik Gefahr, "antisemitischen Faschisten" Argumente zu liefern.

Rayfields glänzend geschriebenes Gruppenporträt ist gerade in diesen Wochen zur Lektüre sehr zu empfehlen. Denn vor sechzig Jahren erhielt Stalins Schlachthaus einen deutschen Anbau. 

Foto: Molotow, Woroschilow, Berija, Malenkow, Bulganin, Chruschtschow, Kaganowitsch, Mikojanc als Ehrenwache an Stalins Sarg 1953: In Stalins Reich gab es nach dem Ausmorden der "Kulaken" 1932 nicht einmal mehr Reste einer oppositionellen "Zivilgesellschaft"

 Donald Rayfield: Stalin und seine Henker, Karl Blessing Verlag, München 2004, 617 Seiten, Abbildungen, 25 Euro


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