© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/05 06. Mai 2005

"Haß statt Befreiung"
Vytautas Landsbergis, ehemaliger Präsident Litauens, über die Weigerung Wilnas, an der 8.-Mai-Feier in Moskau teilzunehmen
Moritz Schwarz

Herr Präsident, die Präsidenten Estlands und Litauens, Arnold Rüütel und Valdas Adamkus, weigern sich als einzige geladene Staatsoberhäupter, an den Feierlichkeiten zum 8. Mai in Moskau teilzunehmen. Warum?

Landsbergis: In Moskau soll die Befreiung Europas von Nazi-Deutschland durch die Rote Armee gefeiert werden. Dabei war Rußland - in Gestalt der Sowjetunion - selbst Verursacher dieses Krieges.

In Deutschland handeln Sie sich damit den Vorwurf der "Relativierung" ein.

Landsbergis: Die Freundschaft Stalins zu Hitler - die schließlich im Molotow-Ribbentrop-Pakt gipfelte - hat diesem den Rücken freigehalten. Damit war die Aggression Hitlers gegen Westeuropa, aber auch gegen Polen und Litauen abgesichert. Die Nazis hatten freie Hand, zu tun, was sie wollten.

Sie haben darauf hingewiesen, daß der Hitler-Stalin-Pakt (1939) erst nach der sogenannten Reichskristallnacht (1938) geschlossen wurde.

Landsbergis: Das zeigt, daß man in Moskau durchaus wußte, welchem Schicksal man mit diesem Pakt die Juden in Polen und Litauen auslieferte. Aber auch für das Leid der nicht-jüdischen Bevölkerung in diesen Ländern trägt die Sowjetunion dadurch Mitverantwortung.

Allerdings hat Stalin Hitler bekanntlich nicht nur gedeckt, sondern sogar aktiv unterstütz.

Landsbergis: Etwa durch Materiallieferungen für die Feldzüge im Westen! Stalin und Hitler waren zwei Kriminelle, die sich später über ihre Beute zerstritten haben. Der eine versuchte sich schließlich als Polizist aufzuspielen. Das ist nicht verwunderlich. Verwunderlich ist nur, daß er bei den Westeuropäern damit durchgekommen ist.

Als was betrachten Sie die Feierlichkeiten in Moskau?

Landsbergis: Putin möchte sie als Feiern zur Befreiung vom Nationalsozialismus verstanden wissen, tatsächlich aber feiert Rußland seine Eroberungen: Teile Rumäniens, Ungarns, der Slowakei, Finnlands, Ostpolen, Königsberg und die baltischen Staaten. Und diese Eroberungen haben nicht erst im Zuge der Niederwerfung Nazi-Deutschlands begonnen. Finnland, Polen, Rumänien, Estland, Lettland und Litauen wurden allesamt schon vor dem Angriff Hitlers auf die Sowjetunion am 21. Juli 1941 von Stalin angegriffen und teilweise - wie zum Beispiel die baltischen Staaten - annektiert. Mit der Einladung nach Moskau werden also ehemals versklavte Staaten gebeten, ihre eigene Gefangenschaft zu feiern!

Lettland hat nicht weniger schlimm unter der sowjetischen Okkupation gelitten als Estland und Litauen. Warum fährt Lettlands Präsidentin Vaira Vike-Freiberga dennoch nach Moskau?

Landsbergis: Die Frage dürfen Sie mir nicht stellen.

Sogar Polens Staatspräsident Aleksander Kwasniewski kommt.

Landsbergis: Das ist wirklich verwunderlich. Vermutlich hat kein Land so sehr unter der Sowjetherrschaft gelitten wie Polen. Denken Sie nicht nur an Besatzung und Annexion, denken Sie auch an die zahlreichen Kriegsverbrechen, die in Polen von der Roten Armee begangen wurden. Denken Sie an Katyn! Aber denken Sie nicht nur daran! Sogar die Sowjetunion hat Katyn in ihrer Endphase als sowjetisches Kriegsverbrechen anerkannt. Das sogenannte demokratische Rußland dagegen verweigert sich der Anerkennung dieser Tatsache. Damit demütigt es die polnische Nation erneut. Warum die Polen dennoch nach Moskau fahren, ist mir schleierhaft. Sieht man in Warschau nicht, daß man damit die eigenen Opfer verhöhnt?

Fahren Polen, Letten, Tschechen etc. vielleicht deshalb, weil es ihnen wichtiger ist, das Gefühl zu haben, zu den Siegern über Deutschland zu gehören, als ihrer Opfer durch die Sowjetunion zu gedenken und damit nicht an alliiertem Glanz und Gloria des 8. Mai teilhaben zu können?

Landsbergis: Ich weiß es nicht.

Vielleicht geht von der Tatsache, daß sich die Westeuropäer auf den 8. Mai als "Tag der Befreiung" geeinigt haben, eine Art psychologischer Sogwirkung auf die osteuropäischen Staaten aus?

Landsbergis: Das Problem ist, daß die Westeuropäer nie von der Sowjetunion besetzt gewesen sind. Sie waren von Deutschland besetzt - das ist ihre historische Erfahrung. Sie haben eine Vorstellung davon, was das bedeutete. Sie haben aber keine Vorstellung davon, was es bedeutet, von den Sowjets "befreit" und versklavt worden zu sein. Die Westeuropäer sehen an einem ambivalenten Sachverhalt nur die eine Seite. - Sie sollten von uns Osteuropäern die ganze Geschichte lernen.

Haben Sie da Hoffnung?

Landsbergis: Ich hoffe sogar früher oder später auf Einsicht bei den Russen, die sich im Gegensatz zu Deutschland bis heute nicht entschuldigt haben. Vielleicht müssen wir darauf noch hundert Jahre warten, aber eines Tages werden auch die Russen einsehen, daß das, was sie Befreiung nennen, eine Eroberung war.

Was macht Sie so sicher?

Landsbergis: Ich hoffe es, was können wir sonst tun? Die Osteuropäer sind dazu verurteilt, sich geduldig im Warten zu üben, bis die Westeuropäer bereit sind, Verständnis für unsere historischen Erfahrungen aufzubringen. Dann können sich dem auch die Russen nicht mehr entziehen.

Vielleicht handelt es sich beim Sieg über Hitler um eine Art Gründungsmythos des Westens nach 1945.

Landsbergis: Die Westeuropäer müssen sich der ganzen Breite der historischen Wirklichkeit stellen. Entweder sie tun das und leben in der Geschichte, oder sie tun es nicht und leben in einer Mythologie.

Warum sollten sie ihre Sicht revidieren? Sie haben die wirtschaftliche und politische Vorherrschaft in Europa.

Landsbergis: EU-Kommissar Franco Frattini hat gesagt: "Ihre Geschichte ist unsere Geschichte!" Bundeskanzler Schröder hat sich dem angeschlossen.

Darauf vertrauen Sie?

Landsbergis: Der Westen diskriminiert sich letztlich selbst, wenn er sich der Erkenntnis verschließt. Und so den heimlichen Stalinisten im Westen einen Sieg gestattet.

In Deutschland wird der 8. Mai beinahe einhellig als "Befreiung" gefeiert. Es gibt regelrechte "Befreiungs-Partys".

Landsbergis: Die deutschen Historiker wissen doch, daß die Rote Armee ihre Soldaten ganz offiziell zum Haß, nicht gegen die Nazis, sondern gegen die Deutschen allgemein aufgestachelt hat: gegen Frauen, Kinder, Alte, Kranke gleichemaßen. Die deutschen Historiker wissen, was für eine Welle bestialischen Hasses über die von den Sowjets eroberten Gebiete geschwappt ist. Mord, Folter, Massenvergewaltigung, Plünderung, Vertreibung, Verschleppung, sprich Versklavung. Selbst Kinder wurden ermordet und vergewaltigt. War das gerechtfertigte Rache? Nein, das war blanker Haß! Ich frage Sie: Ist Haß der Stoff, aus dem Befreiung ist?

Bundeskanzler Schröder sieht seine Reise am Sonntag nach Moskau unter dem Gesichtspunkt der "Normalisierung".

Landsbergis: Warum erinnert Ihr Deutschen Euch nicht daran, daß zum Beispiel die "Befreiung" Ostpreußens mit der fast vollständigen Vertreibung beziehungsweise Auslöschung seiner Bevölkerung einherging? Die Deutschen in den von den Sowjets eroberten Gebieten sind Opfer eines Völkermords geworden - wie übrigens auch die in Ostpreußen lebenden Litauer, aber das war natürlich nur eine Minderheit. Seltsamerweise gibt es heute in Deutschland kein Bewußtsein für diesen Genozid. Die Deutschen wissen vom Völkermord an den Juden, den Indianern, den Armeniern, aber nichts von dem an ihnen verübten. Vergegenwärtigen Sie sich diese Tatsache mal für einen Moment. - Nun sagen Sie mir, halten Sie es jetzt immer noch für angemessen, das Kriegsende im Osten als "Befreiung" zu feiern?

Können Sie sich erklären, warum all das in Deutschland keine Rolle spielt?

Landsbergis: Das frage ich Sie! Vielleicht ist Deutschland deshalb nicht in der Lage, sich diesem Teil seiner Geschichte zu stellen, weil es gleichzeitig ein Teil der russischen Geschichte ist.

Warum, weil Deutschland Angst hat, die Russen zu reizen?

Landsbergis: Ich vermute eher, weil die wirklich enormen Verbrechen der Russen die Stellung der Deutschen als Übeltäter Nummer eins in Gefahr bringen würde.

Sie sprechen von der These, wenn schon nicht Superrasse, dann doch wenigstes Superverbrecher?

Landsbergis: Wer weiß.

Nicht sehr schmeichelhaft für die Deutschen. Sie scheinen sie für unverbesserliche Nationalisten - ob positiv oder negativ gewendet - und für Neurotiker zu halten.

Landsbergis: Man kann durchaus auch aus einem Verbrechen eine Art von Selbstbewußtsein ziehen. Deutschland hat 1945 einen furchtbaren Zusammenbruch erlebt. Warum sollte es in dieser außergewöhnlichen Situation nicht möglich sein, derart außergewöhnlich zu reagieren? Stalin und Hitler verabredeten die Eroberung Europas. Beide griffen ihre Nachbarn an, beide ermordeten unzählige Menschen. Stalins Lager waren mitunter sogar grausamer als die Hitlers. Dennoch ist nur Hitler ein Verbrecher, Stalin dagegen ein Held.

Sehen Sie diesbezüglich in Deutschland eine Art von Ideologie am Werk?

Landsbergis: Nein, nicht Ideologie, Psychologie ist hier am Werk.

Der ehemalige estnische Staatspräsident Lennart Meri sprach in seiner Festrede zum Tag der Deutschen Einheit 1995 in Berlin über Deutschland als eine "Canossa-Republik".

Landsbergis: Deutschland entschuldigt sich und entschuldigt sich und entschuldigt sich - und entschuldigt sich. Wahrscheinlich entschuldigt Ihr Euch noch in hundert Jahren.

Holocaust und Besatzungsherrschaft sind allerdings durchaus auch ein Grund, sich zu entschuldigen.

Landsbergis: Natürlich ist es auch eine große Chance für die Deutschen, in der Lage zu sein, die Verbrechen der Nazizeit zu reflektieren. Natürlich begrüßen wir, daß die Deutschen die Untaten Hitlers, deren Opfer auch Litauen geworden ist, anerkennen. Aber die Deutschen haben sich offensichtlich verrannt. Ihr Deutschen lebt in einer Welt, in der es nur noch Eure Verbrechen gibt. Wenn es Euch aber solche Freude macht, Euch zu entschuldigen, warum empfehlt Ihr nicht auch einmal Rußland diese Wonnen?

Ist das nicht Sache der Russen?

Landsbergis: Die Deutschen machen es den Russen um so leichter, über die eigenen Verbrechen zu schweigen. Unterm Strich zerstören die Deutschen durch ihr Verhalten gegenüber ihrer Hälfte der Schuld die Aufarbeitung der kommunistischen Hälfte. Damit verraten die Deutschen die Opfer des Kommunismus. Denn während die einen Opfer "doppelt" und "dreifache" Genugtuung erhalten - falls man angesichts des Leides der NS-Opfer überhaupt von so etwas sprechen kann -, bleiben die Opfer des Kommunismus allein: Durch das Beschweigen der Verbrechen Stalins laden die Deutschen eine neue Schuld auf sich. Früher haben die Deutschen die eigene Geschichte verdrängt, heute verdrängen sie die Geschichte anderer. Natürlich weiß ich, Bundeskanzler Schröder handelt nicht nur aus einem deutschen Komplex heraus, es geht auch um handfeste Werte, wie zum Beispiel um billiges Erdgas. Dafür ist man sogar bereit, ein Massaker wie Katyn herunterzuspielen. Und damit dieser Verrat an den Menschenrechten möglichst unbemerkt bleibt, pocht man um so lautstärker auf die eigenen Verbrechen. Das ist einfach, verärgert niemanden und bringt den Zugang zum Erdgas nicht in Gefahr.

Selbst Katyn dürfte den meisten Deutschen unbekannt sein, erst recht aber wissen sie zumeist nichts vom antisowjetischen Widerstand der baltischen Völker, der sich bis in die fünfziger Jahre hineinzog.

Landsbergis: Es ist ein Trauerspiel. Wenn Deutsche das erste Mal davon hören, sind sie meist völlig erstaunt. Das Thema antisowjetischer Widerstand an sich ist bis heute nicht sehr populär in Deutschland. Ich frage mich auch, warum sich die Jugend in Deutschland zum Beispiel für den Freiheitskampf südamerikanischer oder südostasiatischer Völker begeistern konnte, während ihr der Freiheitskampf seiner europäischen Nachbarvölker quasi vor der Haustüre herzlich egal war. Und wir sollen Euch glauben, wenn Ihr von Europa sprecht?

 

Prof. Dr. Vytautas Landsbergis war von 1990 bis 1992 Präsident und von 1996 bis 2000 Parlamentspräsident Litauens. 1988 gründete er zusammen mit anderen Oppositionellen die litauische Unabhängigkeitsbewegung Sajudis, deren Vorsitzender er bis 1990 war. Von 1992 bis 1996 führte er für die konservative Vaterlandsunion die Opposition im litauischen Parlament. Geboren wurde der Professor für Musikwissenschaft 1932 in Kaunas.

 

Foto: Bundeskanzler Schröder zu Besuch bei Rußlands Präsident Putin in Sankt Petersburg (2001): "Ihr Deutschen lebt in einer Welt, in der es nur noch Eure Verbrechen zu geben scheint. Warum erinnert Ihr Euch nicht daran, daß Ihr in den von der Roten Armee eroberten Gebieten selbst Opfer eines Völkermords geworden seid? Die Rote Armee hat damals ganz offiziell zum Haß, nicht gegen die Nazis, sondern gegen die Deutschen ganz allgemein aufgestachelt."

 

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