© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/05 06. Mai 2005

Mut zur Macht
Lennart Meri am 3. Oktober 1995

Das bipolare System existiert nicht mehr; jedoch strahlt das Großmachtdenken, der Jalta-Geist, auch heute auf die internationalen Beziehungen aus, unterstützt von mediensynchronisierten Plattitüden der Politiker, die das Wünschenswerte mit der Wirklichkeit verwechseln. (...)

Es ist die höchste Zeit für den Wechsel einer Grundeinstellung gekommen, und zwar: Die Angst vor der Macht soll durch den Mut zur Macht ersetzt werden! Es ist unübersehbar, daß das Vertrauen zu einer Nation nur dann entsteht, wenn sie auf eine verantwortungsvolle Art und Weise, ohne Vorurteile, begleitet von der friedensstiftenden Kraft des Rechts, im Interesse des Gemeinwesens und der Freiheit imstande ist, entschieden über ihre Machtmittel zu verfügen. Als Este sage ich dies und frage mich, warum zeigen die Deutschen so wenig Respekt vor sich selbst?

Deutschland ist eine Art Canossa-Republik geworden, eine Republik der Reue. Aber wenn man die Moral zur Schau trägt, riskiert man, nicht sehr ernst genommen zu werden. Als Nichtdeutscher erlaube ich mir die Bemerkung: Man kann einem Volk nicht trauen, das rund um die Uhr eine intellektuelle Selbstverachtung ausführt. Diese Haltung wirkt auf mich, als ein Ritual, eine Pflichtübung, die überflüssig und sogar respektlos gegenüber unserem gemeinsamen Europa darstellt. Um glaubwürdig zu sein, muß man auch bereit sein, alle Verbrechen zu verurteilen, überall in der Welt, auch dann, wenn die Opfer Deutsche waren oder sind.

Für mich als Este ist es kaum nachzuvollziehen, warum die Deutschen ihre eigene Geschichte so tabuisieren, daß es enorm schwierig ist, über das Unrecht gegen die Deutschen zu publizieren oder zu diskutieren, ohne dabei schief angesehen zu werden - aber nicht etwa von den Esten oder Finnen, sondern von Deutschen selbst? Bevor wir überhaupt an eine "neue Weltordnung" zu denken beginnen, brauchen wir vor allem historische Aufrichtigkeit und Objektivität. Meine Damen und Herren, Dankbarkeit - genauso wie Ewigkeit - ist der Politik ein unbekannter Begriff. Tragik ist keine Kategorie der Wissenschaft, wohl aber eine Grundkonstellation der Geschichte - genauso wie Geographie. Davon haben die Menschen im Osten des geteilten Kontinents mehr gekostet als die im Westen. (...)

Es kommt nicht darauf an, die Vergangenheit zu bewältigen oder die Gegenwart von überflüssigen Belastungen zu räumen. Es gilt in allem Ernst, die Zukunft zu meistern! Deutschland heute (...) ist für Europa keine Dichtung, weder Sommer- noch Wintermärchen. An den Märchen könnte Europa irgendwie vorbei, an Deutschland aber keineswegs.

 

Lennart Meri war von 1992 bis 2001Präsident der Republik Estland. Die hier auszugsweise abgedruckte Rede hielt er am 3. Oktober 1995 in Berlin.


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