© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/05 06. Mai 2005

Hoffen auf Befreiung
Die Rote Armee in Hinterpommern
Karl-Heinz Kuhlmann

Am 8. Mai 1945 war es etwa drei Monate her, daß uns die Rote Armee "befreit" hatte, denn in der Nacht vom 2. auf den 3. Februar rollten zu unserer völligen Überraschung die ersten Sowjet-Panzer durch unser Eichelshagen im Kreis Pyritz in Pommern.

Ich war damals zehn Jahre alt, noch am 20. April 1944 dem Jungvolk als Pimpf beigetreten und Anfang August desselben Jahres Schüler der Klasse 5 des Bismarck-Gymnasiums in Pyritz geworden, dessen Unterricht allerdings nur noch bis zu den Weihnachtsferien dauerte. Wegen Kohlenmangels wurden diese zunächst auf unbestimmte Zeit verlängert und durch den besagten 2. Februar dann für mich zu einer Schulpause bis zum Oktober 1945.

Am 8. Mai feierten die Soldaten der sowjetischen Kommandantur auf der Dorfstraße mit Musik, Tanz und lauten "Hitler-kaputt-Rufen" ihren Sieg. Nun schwiegen also die Waffen bis auf vereinzelte Freudenschüsse, und wir wußten, daß die Flugblätter, die in den letzten Wochen vereinzelt vom Himmel gerieselt waren, endgültig ihren Sinn verloren hatten: "Haltet aus, wir kommen wieder!" Wir hatten tatsächlich bis zuletzt darauf gehofft, daß deutsche Soldaten uns befreien würden von all dem Schrecken, den Vergewaltigungen und dem Morden.

Auf die ersten Panzer in jener Februarnacht folgten zunächst ein paar ruhige Tage ohne Anwesenheit von Rotarmisten. Es lag eine bedrückende Stille über dem Dorf, dessen Einwohnerschaft nur aus Frauen und Kindern sowie ein paar alten Männern bestand. Und dann kamen sie. Zunächst nur drei Soldaten, die Haus für Haus durchsuchten und hier und da ein paar Wertgegenstände mitnahmen. Uhren waren ihre Hauptbegier. Schon atmeten wir auf. Waren das die so gefürchteten Sowjets? Vielleicht war doch alles nur Propaganda.

Es sollte bald ganz anders kommen. Nur wenige Tage später wurden wir nachts durch Pferdegetrappel und Wagenlärm auf der kopfsteinernen Dorfstraße aus dem Schlaf gerissen. Stimmen wurden lauter, betrunkene Rotarmisten drangen in die Häuser ein und nahmen sich die Frauen und Mädchen. Doch das war in dieser Nacht noch nicht alles. Als der Morgen heraufzog und wir Kinder vorsichtig, aber doch neugierig auf die Straße traten, um wie auch schon in den Tagen davor beim Füttern des Viehs zu helfen, da wurde aus ersten Gerüchten schreckliche Wahrheit: die betrunkenen Soldaten hatten eine ganze Familie regelrecht hingemetzelt, - den alten Bauern mit seiner Frau; die behinderte Tochter sowie die junge Schwiegertochter mit zwei kleinen Kindern.

Um solchen Untaten auszuweichen, flüchtete meine Mutter mit mehreren anderen Frauen und uns Kindern aus dem Dorf in ein außerhalb gelegenes Bauernhaus. Wir schliefen im Futterkeller auf Kartoffeln und Runkeln. Doch in dieser Nacht kamen die sowjetischen Soldaten auch zu uns. Sie stiegen allerdings nicht in den Keller hinab, sondern nahmen sich die Frauen und Mädchen, die in der Wohnung Zuflucht gesucht hatten. Wir hörten ihre Schreie. Ein neuer Morgen zog herauf. Wohin sollten wir uns jetzt noch flüchten? Wir schlichen in die Scheune und krochen in das Stroh hinauf, ganz unter das Dach. Als dann später andere Soldaten das leere Haus vorfanden, begannen sie auch die Scheune zu durchsuchen. Sie schossen in das Stroh, doch wir blieben unverletzt. Später wurde dann auch noch der Bürgermeister erschossen. 

Karl-Heinz Kuhlmann, Bohmte


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen