© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/05 06. Mai 2005

Deutschland wird unterschätzt
Standortverlagerungen: Produktion in Billiglohnländern ist nicht immer kostengünstiger / Ein Viertel kommt wieder zurück
Alexander Griesbach

Als die Daimler-Chrysler-Führung letztes Jahr während der Tarifverhandlungen drohte, die Mercedes-C-Klasse künftig in Südafrika produzieren zu lassen, wußten Eingeweihte, daß das bloß ein Druckmittel war, um die Gewerkschaftsforderungen im Zaum zu halten. Schon die Produktion in den USA bereitet genügend Qualitätssorgen - und kein Mercedes-Kunde zahlt 40.000 Euro für einen Afrikaner-Benz. Die Existenzangst der etwa 1.600 Beschäftigten beim Autozulieferer Siemens VDO Automotive in Würzburg ist hingegen vollkommen berechtigt: Elektrische Motoren für Autofenster oder Scheibenwischer können tschechische Ingenieure und Facharbeiter in Ostrau wohl ebenso zuverlässig produzieren - ohne Imageverlust für Siemens, aber kostengünstiger.

Produktionsverlagerungen sind Entscheidungen von höchster strategischer Bedeutung. Da sie sich sowohl auf die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen als auch auf das Arbeitsplatzangebot in Deutschland auswirken, sind sie ein Dauerthema der politischen Agenda. Dies gilt erst recht seit der Osterweiterung der EU. Seitdem sollen viele deutsche Unternehmen mit dem Gedanken spielen, auf den Verlagerungszug in Richtung Osteuropa aufzuspringen - wenn sie dies nicht schon längst getan haben.

Standortentscheidungen sind längst keine Option mehr, die nur für Großunternehmen in Frage kommt. Zunehmend sind auch kleine und mittlere Unternehmen (KMU) - freiwillig und unfreiwillig - von ihnen betroffen. Zulieferer sehen sich beispielsweise dem Zwang ausgesetzt, einem Großkunden zu seinen Produktionsstandorten im Ausland folgen zu müssen, um dort in unmittelbarer Nähe des Kunden präsent sein zu können. Für KMU sind hiermit eine ganze Reihe von Herausforderungen verbunden. Geködert werden die KMU mit der Aussicht auf wachsende Umsätze mit finanzkräftigen Partnern und anspruchsvollen Aufgaben.

Die Kehrseite der Medaille: Gerade für KMU können die Risiken beträchtlich sein. Die Herausforderungen an das Management sind komplex und die Möglichkeit eines Scheiterns hoch. Zu Recht sprach deshalb Anat Kalman am 11. März in einem Beitrag für den Deutschlandfunk von einem "Königsweg mit Schattenseiten". Viele westeuropäische Firmen hätten "in den letzten 15 Jahren nämlich die Erfahrung gemacht, daß Produktionen in sogenannten Billiglohnländern nicht unbedingt und in jeder Hinsicht billiger sind". Häufig würden die Risiken falsch bewertet. Zu diesem Ergebnis kam jedenfalls das mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Verbundforschungsprojekt "Bestand" (im Internet: www.standorte-bewerten.de ).

Wenn es um die Auswahl neuer Standorte ginge, spiele die "strategische Bedeutung häufig eine untergeordnete Rolle". Im Hinblick auf KMU bleibe festzuhalten, daß sie "Standortentscheidungen nicht umfassend genug vorbereiten". Zu häufig, so meinen die Projektpartner von "Bestand", stellten sie zu sehr auf "Kostengesichtspunkte" ab. Bis heute ist Senkung der Personalkosten durch günstigere Lohn- und Lohnnebenkosten an ausländischen Standorten das dominierende Motiv für Produktionsverlagerungen geblieben.

"Wer so gewichtet, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit scheitern", meinen die Projektpartner. Die Folge: Eine Zeitlang stieg die Quote enttäuschter Rückverlagerer an, insbesondere in dem Zeitraum von 1999 bis 2001. Nach einer vom Bundesministerium der Finanzen beim Fraunhofer Institut für Systemtechnik und Innovationsforschung (ISI) in Auftrag gegebenen Studie, in der die Angaben von 1.450 Betrieben der Metall- und Elektroindustrie sowie der chemischen und Kunststoff verarbeitenden Industrie ausgewertet wurden (Stand: Dezember 2004), sei dies allerdings nur ein "Strohfeuer" gewesen. Mittlerweile seien die Verlagererzahlen wieder deutlich angestiegen. "Ein Viertel aller deutschen Industriebetriebe aus den Kernbranchen des Verarbeitenden Gewerbes hat zwischen 2001 und 2003 Teile der Produktion ins Ausland verlagert. Bevorzugtes Verlagerungsziel waren die EU-Beitrittsländer", stellt das ISI fest. Bei mehr als vier Fünfteln der Verlagerer stünde die Senkung der Produktionskosten im Mittelpunkt. Auf Platz zwei der Motive folge mit rund 40 Prozent die Erschließung neuer Märkte. "Steuern und Abgaben waren nur in einem Viertel der Fälle ein Grund, Produktion ins Ausland zu verlagern. Dieses Motiv hat damit nicht die Bedeutung, die vielfach unterstellt wird."

Die Rückverlagerungen von Produktionskapazitäten habe im selben Zeitraum abgenommen. "In den Kernbranchen des Verarbeitenden Gewerbes haben vier Prozent aller Firmen zwischen 2001 und 2003 Teile ihrer Produktion aus dem Ausland wieder nach Deutschland zurückgeholt." Damit kämen im Betrachtungszeitraum auf jeden Rückverlagerer 5,6 Firmen mit Verlagerungen ins Ausland. Zwischen 1999 und 2001 habe die entsprechende Quote bei nur etwa 1,0 zu 3,3 gelegen.

Ob dieser Trend mittel- bis langfristig anhalten wird, ist umstritten. Anat Kalman schlußfolgerte jedenfalls mit Blick auf seine Recherchen: "Die Produktionsverlagerungen werden nachlassen, denn immer mehr westeuropäische Firmen ziehen den Verlagerungen in Niedriglohnländer andere Kostensenkungsoptionen vor: Neue Lohnverhandlungen mit der Belegschaft und mit Zulieferern oder Senkung der Logistikkosten. Dadurch werden aber im Westen wie im Osten auch neue Arbeits- und Lohnverhältnisse geschaffen."

Vorteile lokaler Netzwerke besser nutzen

Diese Ziele könnten mit einer verstärkten Kooperation erreicht werden, die sich mehr und mehr als neues Zauberwort in der Standortdebatte herauskristallisiert. Produktionsverlagernde Firmen wendeten, so das Fraunhofer ISI, "weniger Mittel für Forschung und Entwicklung auf als Nicht-Verlagerer" auf und gingen "deutlich weniger Kooperationen mit industriellen Partnern aus ihrer Region ein". Die Fraunhofer-Forscher zogen daraus den Schluß, daß nicht immer "alle Innovations- und Netzwerkpotentiale am deutschen Standort ausgeschöpft werden, bevor Produktion ins Ausland verlagert wird". Insbesondere in der konsequenten Nutzung "regionaler Netzwerke" lägen oftmals noch Chancen, die bei Verlagerungsentscheidungen nicht angemessen berücksichtigt würden.

Der Hinweis auf die bereits angesprochenen "Netzwerkpotentiale" kommt nicht von ungefähr, sondern war bereits ein wesentlicher Aspekt des Projektes "Bestand". Ein Anliegen der Projektpartner war es, den Unternehmen Handlungshilfe bei "der Sensibilisierung für die am deutschen Standort bereits genutzten und oftmals unbewußten Vorteile lokaler Netzwerke" und bei der "Sensibilisierung für die möglichen Kosten beim Aufbau ähnlich leistungsfähiger Netzwerke im Ausland" zu geben.

Die Identifikation von "Ansatzpunkten, mit denen sich die maßgeblichen Faktoren der inländischen Standortqualität durch regionale Kooperationen wirksam verbessern lassen", könnte in der Tat ein Ansatzpunkt sein, nicht hinreichend fundierten Produktionsverlagerungen ins Ausland entgegenzuwirken.

Grafik: Deutsche Investitionen im Ausland steigen: Bevorzugtes Verlagerungsziel waren in den letzten Jahren die zehn EU-Beitrittsländer


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