© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/05 06. Mai 2005

Erzieher der Deutschen
Zum 200. Todestag des Dichters und Philosophen Friedrich Schiller
von Günter Zehm

Seit Januar läuft in der Bundesrepublik anläßlich des zweihundertsten Todestages des Dichters am 9. Mai ein hochoffizielles "Schillerjahr". Es wimmelt von dröhnenden öffentlichen Ansprachen und grellen Events. Aber typisch für neudeutsche Verhältnisse: Unüberhörbar ist der hämische Grundton vieler, vielleicht der meisten Veranstaltungen. Man feiert Schiller nicht, sondern man kritisiert ihn. Man identifiziert sich nicht mit ihm, sondern distanziert sich von ihm.

Schillers Dramen? "Faktisch unspielbar". Schillers Balladen? "Nur noch als unfreiwillige Satire genießbar". Schiller als Philosoph, Lehrer und Erzieher, gar als Erzieher der Deutschen? "Eine Zumutung. Ausgerechnet Schiller! Aus der Karlsschule des Herzogs von Württemberg, in der er selbst erzogen wurde, ist er ausgebüxt, floh aus dem heimatlichen Württemberg nach Mannheim ans Nationaltheater - um was dort aufführen zu lassen? Die Räuber, hahaha."

"Die Räuber" sind nun tatsächlich das Anti-Erziehungsstück par excellence und als solches auch in die Literaturgeschichte eingegangen. Es sind dort wildmähnige junge Leute zugange, die von Erziehung nicht das geringste wissen wollen, sich vielmehr über sie lustig machen und es im übrigen ganz wüst und toll treiben, andauernd gegen das "tintenklecksende Säkulum" anstänkern und sich schließlich gänzlich außerhalb jeglichen Gesetzes stellen, sich voller Trotz in die böhmischen Wälder zurückziehen.

Es gibt "Festredner", die die Rede von Schiller als dem Erzieher der Deutschen boshaft travestieren und just "Die Räuber" als erzieherische Großtat feiern, welche bei den Deutschen denn auch die schönsten, will sagen: die bösesten Früchte getragen habe. Sie zitieren genüßlich die Anekdote, wonach ein Deutscher einem Ausländer voller Verwunderung erzählt: "Schiller hat für alle möglichen Völker Erziehungs- und Identitäts-Dramen geschrieben, für die Franzosen die Jungfrau von Orléans, für die Engländer die Maria Stuart, für die Russen den Demetrius, für die Spanier den Don Carlos, für die Sizilianer die Braut von Messina, für die Schweizer den Tell - nur für sein eigenes Volk, die Deutschen, hat er kein solches Drama geschrieben". Worauf dann der Ausländer erwidert: "Wieso denn? Er hat doch Die Räuber geschrieben."

Das soll natürlich ein Witz sein, findet aber eine Art Widerlager in der Vita von Schiller insgesamt. Auch später ist er nicht als das auffällig geworden, was wir eigentlich unter "Erzieher" verstehen, also als Respektsperson, als jemand, der junge Menschen mit mehr oder weniger Zwang nach seinem Bilde zu formen strebt, sie auf den sogenannten Ernst des Lebens vorbereitet, ihnen praktisches, anwendbares Wissen einbleut usw.

Gewiß, Schiller war eine Zeitlang Professor für Geschichte an der Universität Jena, die heute seinen Namen trägt. Er hat dort mächtige Essays über den Abfall der Niederlande oder über den Dreißigjährigen Krieg vorgetragen, aber "erzogen" hat er nicht, wollte es im Grunde auch gar nicht. Er hat keine Schüler um sich versammelt, auch nicht ansatzweise. Um die Belange der Uni hat er sich nicht gekümmert. Die Beziehungen zu Kollegen, zu Fichte etwa oder zu Schelling, blieben sporadisch und förmlich.

Schiller war seiner Natur nach kein Hochschullehrer, überhaupt kein Lehrer, er war - außer natürlich, daß er Dichter war - in erster Linie Journalist, Zeitschriftengründer und Zeitschriftenherausgeber, großer, gelegentlich ätzender Literaturkritiker, Debattenredner, in allen Sätteln des ästhetischen Diskurses gerecht, elegant und sicher, nie pompös oder oberlehrerhaft, vielmehr auch noch in späteren Jahren (er ist bekanntlich nur 46 geworden) ausgesprochen jungenhaft, verwegen, pathetisch, herzhaft zupackend.

Doch genau damit setzte er für sein Publikum ein Beispiel, das ausgesprochen erzieherisch wirkte und sichtbare Spuren im deutschen Geistesleben und vielleicht sogar im deutschen Nationalcharakter hinterlassen hat. Man kann es so ausdrücken: Die erste erzieherische Wirkung Schillers auf die Deutschen geschah über das Medium der Liebe. Die Deutschen hatten von Anfang an ein ganz und gar besonderes Verhältnis zu diesem Feuerkopf, zu diesem großen Jungen, der doch so früh schon so vollkommen war, so vollendet und so ums Ganze besorgt. Nämlich: sie liebten ihn. Tatsächlich von Anfang an, gleich nachdem "Die Räuber" zum ersten Mal aufgeführt worden waren und die Druckausgabe des Stückes erschienen war, liebten sie ihn. Das Verhältnis der Deutschen zu Schiller war und ist und bleibt vielleicht für immer - eine Liebesgeschichte, ein fou d'amour, eine Sache des Eros.

Und wenn man sich daran erinnert, daß schon Platon in der Antike, der die unsterbliche Figur des Groß- und Jugenderziehers Sokrates geschaffen hat, äußersten Wert darauf legte, daß Liebe und Erkenntnis bzw. Erziehung, also Eros und Logos, untrennbar zusammengehören, daß nur jener Logos, zu dem wir durch Eros liebend hingetrieben werden, wirklich Wurzeln in unserem Geist schlägt und dauerhafte Früchte trägt - dann merkt man, daß für Friedrich Schiller als Erzieher der Deutschen die Dinge äußerst günstig standen, daß es im Grunde nur eine Frage der Zeit sein würde, bis sich beide, Schiller und die Deutschen, beiderseits ganz bewußt im Status des Erziehers bzw. des Schülers, zusammengefunden haben würden.

"Die Räuber" spielten dabei durchaus eine Rolle, sie lieferten die Initialzündung. Sie kamen ja nicht aus heiterem Himmel, waren vielmehr Teil einer schon seit längerem im Schwange befindlichen Literatur- und Geistesbewegung: des von Rousseau, von Herder und Goethe angestoßenen "Sturms und Drangs", des machtvollen, alles hinwegfegenden Gefühls gegen den lange, allzu lange unumschränkt geherrscht habenden Absolutismus, der die Welt nach Art einer mathematischen Gleichung ins Lot und zum optimalen Stillstand bringen wollte.

Schillers frühes Drama war, neben und nach Goethes "Werther", Gipfelpunkt und Schlußakkord des "Sturm und Drang". Wer das Stück sympathetisch, also im Takt der damaligen Zeit und in der Intention des jungen Schiller, liest, der spürt sofort, daß hier, in einem letzten, gewaltigen Aufbäumen, schon der Umschlag einsetzt, daß zwar die alte Ordnung, die im Empfinden der lebendigen Seelen eine monströse Unordnung war, für immer begraben wird, aber eine neue Ordnung schon am Horizont aufscheint, eine Ordnung, in der Verstand und Gefühl, Notwendigkeit und Freiheit, Wahrheit und Schönheit, miteinander "versöhnt" sind, um den Schlüsselbegriff des philosophierenden und erziehenden Schiller ins Spiel zu bringen.

Im Mittelpunkt von Schillers Erziehungsprogramm steht und stand von Anfang an als Ziel die "Versöhnung". Mit diesem Begriff ist Schiller gleichsam in die Philosophiegeschichte eingegangen. Er war ein eminent philosophischer Kopf und hatte in der von ihm so ungeliebten Karlsschule eine äußerst gründliche Ausbildung in Philosophie nebst den zugehörigen klassischen Sprachen und theologischen Weiterungen erhalten. Wie faktisch alle damals in Jena lehrenden Professoren war er begeisterter Kantianer, hatte die drei "Kritiken", insbesondere die "Kritik der Urteilskraft", sofort gelesen und verinnerlicht, und nun entwickelte er davon ausgehend seine eigene praktische Philosophie und Erziehungslehre. Und diese mündete im Begriff der "Versöhnung", die nach Auffassung von Schiller nur als ästhetische praktiziert werden konnte und deren Exekutionsfeld das "Spiel" war, ein weiterer Grundbegriff der Schillerschen Erziehungslehre.

Kant hatte es in der "Kritik der Urteilskraft" unternommen, "apriorische", also unter allen Bedingungen gültige Beurteilungsmaßstäbe für das ästhetische Gefühl aufzurichten. Dem ästhetischen Leben, schrieb er, fehlt sowohl die Gefühls­gewalt des persönlichen Wohl und Wehe wie der Ernst allgemeiner Arbeit für sittliche Zwecke, es ist bloßes Spiel der Vor­stellungen in der Einbildungskraft. Wobei das Wort "bloß" nicht auf die falsche Fährte führen darf, daß das Spiel, da ihm doch weder erkenntnistheoretische noch moralische Kraft zukommt, eine äußerliche, unwichtige Sache sei.

Im Gegenteil, ge­rade weil das Spiel von unmittelbaren erkenntnistheoreti­schen wie moralischen Zwecken befreit ist, ermöglicht es höchste Freiheit. Keine Regel ist so frei gesetzt wie die des Spiels, keiner Regel unterwerfen wir uns so freiwillig wie der des Spiels. Einzig im Spiel fallen Freiheit und Notwendigkeit zusammen, und so ist die Kunst, sofern sie als Inkarnation des Spiels definiert wird, die Sphäre höchsten transzendentalen Glücks.

Schiller hat genau diesen Aspekt aufgenom­men und zu einer eigenen ästhetischen Doktrin ausgebaut. Die bei den Seiten der menschlichen Natur, schrieb er in seinen "Brie­fen über die ästhetische Erziehung", sind nicht versöhnt, wenn der sittliche Trieb den Sinnentrieb immer nur überwinden oder niederhalten muß; das war bei Kant der Fall, der die sitt­liche Tat ausschließlich als Pflicht sehen wollte und sie scharf gegen die Neigung abhob. Entweder herrschte der sinnliche Trieb über die Pflicht oder die Pflicht über den sinn­lichen Trieb. Damit war Schiller nicht einverstanden. Er ziel­te auf eine Versöhnung von Pflicht und Neigung, und ebendiese Versöhnung, führte er aus, geschehe in der Sphäre der Ästhetik, die eine durch und durch spielerische sei.

Der Mensch ist nach Schiller nur da wahrhaft Mensch, wo er spielt, wo der Kampf mit der Natur und mit seinen inneren, natürlichen, "barbarischen" Trieben schweigt, die sinnliche Natur in ihm zur "edlen Empfindung" erhoben ist. Dem Ideal des Kantschen Pflichtmenschen stellt er die "schöne Seele" gegenüber, welche den Kampf zwischen Pflicht und Neigung nicht mehr kennt. Und wie und wo bildet sich die "schöne Seele"? Sie bildet sich im und mit dem Spiel. Mit dem Spiel, das heißt vor allem im Nachspielen edler Kunstwerke im Theater, auf den "Brettern, die die Welt bedeuten" (ein Zitat von ihm). Dort, sagt er, werden wir wahrhaft erzogen, zu vollwertigen, selber edlen Menschen em­porgebildet.

Alles ist freiwillig, niemand prügelt uns ins Theater hinein. Theater als "moralische Anstalt", als die es Schiller apostrophierte: das markiert gewissermaßen das höchste Stadium der Versöhnung. Das Theater ist so etwas wie ein Modell des gesellschaftlichen, nationalen Lebens. An ihm kann und soll sich der politische und werktätige Alltag ausrichten. Als schlimmes Gegenmodell beschreibt Schiller in den "Briefen über die ästhetische Erziehung" die Zustände während der gerade zu seiner Zeit in England voll in Fahrt kommenden industriellen Revolution, besonders die durch sie bewirkte strikte Arbeitsteilung, und er beschreibt sie so, wie sie später die Sozialisten, etwa Friedrich Engels, kaum anders, kaum aggressiver beschrieben haben.

Schiller-Zitat aus den "Briefen zur ästhetischen Erziehung": "Dadurch allein, daß wir die ganze Energie unseres Geistes in einem Brennpunkt versammeln, setzen wir dieser einzelnen Kraft gleichsam Flügel an und führen sie künstlicherweise weit über die Schranken hinaus, welche die Natur ihr gesetzt zu haben scheint. Andererseits aber sehen wir schon ganze Klassen von Menschen nur einen Teil ihrer Anlagen entfalten, während daß die übrigen wie bei verkrüppelten Gewächsen kaum mit matter Spur angedeutet sind."

Der bloßen Masse traute er keine Weisheit zu

Genau diesen verkrüppelnden Tendenzen des Arbeitslebens sollte die ästhetische Erziehung gegensteuern. Ästhetisches Spiel also als Kompensation für Defizite in der her­aufdämmernden modernen Arbeitswelt. Und Schiller treibt seinen Kompensationsgedanken - in der Schrift über "Naive und sentimentalische Dichtung" - noch sehr viel wei­ter: Nicht nur für die Verkrüppelung im Prozeß der Arbeitsteilung soll das ästhetische Spiel Ausgleich sein, sondern auch für jene unwiderrufliche Trennung von der Natur überhaupt, die unser Menschenschicksal ist.

Dabei verhält sich Schiller, nicht zuletzt belehrt durch den Verlauf der Französischen Revolution, bewußt antiutopisch. Er ist sich darüber klar, daß es nicht möglich, ja, nicht einmal wünschenswert ist, einen Staat nach strikt ästhetischen Gesichtspunkten zu schaffen und in Gang zu halten. Das wäre, glaubt er, politisch-wirtschaftlich gesehen geradezu lächerlich. Erfülltes Leben unter dem Gesetz der Ästhetik, postuliert er, muß ein Schein bleiben, der über der Wirklichkeit liegt wie ein humanisie­render Äther und der sich letztlich wohl lediglich in einigen erlesenen Zirkeln von auserwählten einzelnen zu etwas dichterer Gesellschaftsmaterie zusammenfügt.

Schiller war nichts weniger als ein "Demokrat" im Sinne der heutigen political correctness. Der bloßen Masse, der bloßen Quantität, traute er keine Form stiftende Weisheit zu. In seinem Demetrius heißt es: "Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn; / Verstand ist stets bei wenigen nur gewesen .../ Man soll die Stimmen wägen und nicht zählen. / Der Staat muß untergeh'n, früh oder spät, / Wo Mehrheit siegt und Unverstand entscheidet."

Jeder Versuch, den ästheti­schen Schein per Mehrheitsentscheid in handfestes politisches Sein zu verwandeln, ist nach Schillers Meinung zum Desaster verurteilt. Es kann immer nur darum gehen, daß die herrschenden, die kulturell und politisch ausschlaggebenden Kreise sich glaubhaft und sichtbar um ästhetische Vervollkommnung bemühen und damit ein edles Beispiel setzen, das auf die übrigen Volksgenossen ausstrahlt, sie zur Nachahmung anstiftet und so ein allgemein human-humanistisches Gesellschaftsklima erzeugt.

Das ist also der Kern der Schillerschen Erziehungslehre. Sie klingt beim ersten Hören ungeheuer idealistisch, auch ungeheuer anspruchsvoll und hochgestochen, mit einem Wort: weltfremd. Aber ist sie das wirklich: weltfremd? War dieser Mann und Dichter Friedrich Schiller vielleicht nichts weiter als ein weltfremder Idealist und Spinner, der sein Leben lang in höheren Sphären schwebte und vom "wirklichen Leben" keine Ahnung hatte?

Nun, davon kann nicht im mindesten die Rede sein. Schiller hat das Leben erfahren wie kaum ein zweiter, wurde von frühester Jugend an brutal mit ihm konfrontiert. Sein Vater war Felscher, Wundarzt und Werbeoffizier der württembergischen Armee, zog mit Frau und Kindern, immer der Truppe nach, in den Siebenjährigen Krieg und in andere blutige Unternehmungen; der kleine Fritz sah tote Krieger, und er sah Grenadiere und Musketiere, die wegen kleinster Vergehen von ihren Vorgesetzten aufs Grausamste bestraft wurden, Spießruten laufen mußten, zusammengeschlagen wurden.

Später auf der Karlsschule erfuhr er am eigenen Leibe jahrelang schärfsten Erziehungsdrill. Dann, bei den Schauspielern in Mannheim, oft ohne Gage am Rand des Existenzminimums lebend, machte er intimste, intensivste Bekanntschaften mit den untersten Volksschichten, mit Manufakturarbeiterinnen, keifenden Zimmerwirtinnen, Prostituierten. 1791 zog er sich eine schwere Lungenentzündung zu, die nicht ordentlich ausgeheilt wurde und von der er nie wieder richtig genas. Er bekam Rippenfell-Vereiterung, Herzbeutel-Vereiterung, er war von da ab ein schwerkranker Mann, der gewissermaßen gegen seinen Körper lebte, ihm die Kraft zu seinen großartigen geistigen Aufbrüchen Tag für Tag regelrecht abringen mußte. Kein Zweifel, dieser Schiller kannte das Leben in all seinen triebhaften, stoffhaften Facetten.

Und er kannte auch die Politik, das Treiben der höheren Stände, die schnöde Art, mit der sie nur allzuoft ihre Untertanen ausplünderten, ihre unbezähmbare Machtgier, ihre Gier nach Obenbleibenwollen um jeden Preis, ihre Intrigen- und Ränkesucht. Man kann die Behauptung wagen: Kaum ein anderer Schriftsteller, sämtliche modernen Soziologen und Politologen eingeschlossen, wußte über die Politik und ihre Antriebe so gut Bescheid wie Schiller. Die Politik, wie sie jenseits aller Propagandaphrasen wirklich ist, war sein Haupt- und Magenthema. Seine großen Dramen, "Don Carlos", "Fiesco", "Kabale und Liebe", "Wallenstein, "Maria Stuart", auch "Wilhelm Tell", sie alle drehen sich um nichts anderes als um große oder weniger große, in jedem Fall exzessiv entfaltete Politik. Und das gleiche gilt für Schillers Geschichtsvorlesungen, die Geschichte der Kreuzzüge, die Geschichte des Abfalls der Niederlande, die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges.

Schiller war in politischen Angelegenheiten völlig illusionslos, sowohl was die oberen als auch was die unteren Kreise betrifft. Deshalb ja auch seine von Anfang an bestehende Skepsis gegenüber der Französischen Revolution von 1789. Während andere deutsche Geistesgrößen, Klopstock, Forster, Wieland, sogar Kant, zunächst scharmutzierten und Preisreden anstimmten, hielt sich Schiller unverbrüchlich im Stande des kalten Beobachters. Er sah ganz früh hinter den großen Rednern, von Mirabeau bis Robespierre, die "Schinder", wie er sich ausdrückte, die Mörder und Henkersknechte.

Nicht weil er von Politik und Leben keine Ahnung hatte, sondern weil er genau über sie Bescheid wußte, hat Schiller sein hochidealistisches Programm einer ästhetischen Erziehung durch Theater und Spiel unter die Leute gebracht. Schiller war Idealist, weil er Realist, großer, größter Realist war. Das drückt sich nicht zuletzt in seiner Bühnensprache aus, jenem "hohen Ton", der es heute nach Auskunft vieler Kritiker angeblich unmöglich macht, Schiller zu spielen.

Schillers Ton ist "hoch", aber volkstümlich

Sicher, der Ton ist tatsächlich "hoch", die Akteure sprechen in strengen Jamben und mit gestochener Klarheit, und sie vermeiden die heute üblichen naturalistischen Banal- und Fäkalausdrücke. Aber hinwiederum ist der Ton der Schillerschen Dramen auch außerordentlich eingängig und allgemeinverständlich, ja geradezu volkstümlich, wenn auch ohne die geringste Anbiederei. Schillers Sprache ist über weite Strecken waschechte Volkssprache geworden, Sprichwörtersprache, er hat uns hier also schon mal "erzogen", nämlich sprachlich zu sich emporgehoben.

Wenn wir den Wallenstein oder den Tell hören, wundern wir uns immer wieder minutenlang, weil die Schauspieler sprechen, als würden sie unentwegt aus dem Büchmann, aus dem Sprichwörterlexikon zitieren. Die Axt im Haus erspart den Zimmermann. Der Starke ist am mächtigsten allein. Ans Vaterland, ans teure, schließ dich an! Schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort. Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen. Rasch tritt der Tod den Menschen an ...

Jeder große Dichter, der "erzieht", also seine Zuhörer bzw. Leser wenigstens phasenweise zu Schülern macht, welche bei ihm lernen, ist in erster Linie Volkserzieher, Erzieher derjenigen, die seine Sprache ebenfalls als Muttersprache sprechen und sich an ihr bilden. Aber Schiller war eben nicht nur in dieser Weise Erzieher speziell der Deutschen, sondern noch in einem viel weiteren Sinne. Er war der Überzeugung, daß es den Deutschen aufgrund ihrer spezifischen Prägung und Nationalgeschichte besonders gegeben und auch nötig sei, ihr nationales Leben und ihre Politik ausdrücklich, bewußt und zielstrebig am Ideal der ästhetischen Erziehung auszurichten.

Er war, wie erwähnt, ein scharfer und leidenschaftlicher Politikbeobachter. Er sah den Aufstieg Napoleons in Frankreich und erlebte noch die Anfänge des auf ganz Europa begierigen napoleonischen Imperialismus. Er sah zu, wie die Engländer und die Niederländer ein gewaltiges Kolonialreich in Übersee zusammenklaubten und die Russen nach Sibirien bis an den Pazifischen Ozean und bis nach Alaska ausgriffen. Nur die Deutschen, das große mitteleuropäische Heilige Römische Reich Deutscher Nation und seine Fürsten und Freien Städte, versagten sich, so sah er es, diesem ungeheuren Macht- und Ausbreitungsstreben. Das erfüllte ihn mit tiefer Sorge, aber auch mit Hoffnung.

Er war Realist und konnte sich durchaus vorstellen, daß dieser an vielen Orten sich anbahnende europäische Imperialismus zu bösen Häusern führen würde, zumal wenn er - was ja offensichtlich der Fall war - im Zeichen neu-industrieller Technik und Arbeitsteilung, also im Zeichen von Entfremdung und Naturzerstörung, stattfand. Und der Realist Schiller konnte sich auch vorstellen, daß nicht nur Länder in Übersee, sondern auch und gerade Deutschland, das untätig, professoral und selbstgenügsam in sich ruhende Deutschland, ein Opfer dieser entfremdenden, zerstörerischen Aggressionen sein würde. All dies erfüllte ihn mit Sorge. Es gibt viele Verse von ihm, in denen sich diese Sorge artikuliert.

Freilich, nie verfällt er darüber in Resignation, im Gegenteil. Bekannt ist seine Xenie mit dem Titel "Deutscher Nationalcharakter": "Zur Nation euch zu bilden, ihr hofft es, Deutsche, vergebens; / Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus!" Im ersten Moment klingt das recht bescheiden. Der Deutsche als "bloßer Mensch" - er will also an sich gar kein Deutscher sein, am wenigsten will er als solcher anderen auf die Nerven fallen. Aber das ist nur die Vorderseite.

Im Kern lehrt Schiller hier, daß es die Deutschen seien, die vor allen anderen das Zeug dazu haben, die "eigentlichen Menschen" zu werden, so wie die alten Griechen damals in der Antike aufgrund ihrer Kultur die "eigentlichen Menschen" wurden und waren trotz der ihnen in vieler Hinsicht überlegenen politischen Großreiche um sie herum, Ägypten Persien, Karthago. Die aus der Kultur sich speisende überlegene Menschlichkeit, legt Schiller nahe, war der Nationalcharakter der klassischen Griechen, und sie ist heute, in der Neuzeit, der Nationalcharakter der Deutschen, genauer: der durch Klassik, Griechenerinnerung und ästhetisches Spiel erzogenen Deutschen. Sie allein wissen, daß die gewissermaßen urwüchsige Politik das Leben der Völker und darüber hinaus alles Lebendige in der Natur auf Dauer schwer beschädigt und ins Verhängnis führt.

Schiller hatte durchaus seinen Nationalstolz. Es gibt von ihm das ergreifende Fragment "Deutsche Größe", und darin steht: "Der Deutsche mag unglücklich aus dem politischen Kampf herausgehen, aber das, was seinen Wert ausmacht, verliert er nicht. Deutsches Reich und deutsche Nation sind zweierlei Dinge. Die Majestät des Deutschen ruhte nie auf dem Haupt seiner Fürsten. Abgesondert von dem Politischen, hat der Deutsche sich einen eigenen Wert gegründet, und wenn sein Imperium auch unterginge, so bliebe die deutsche Würde unangefochten. Sie ist eine sittliche Größe, sie wohnt in der Kultur und dem Charakter der Nation, der von ihren politischen Schicksalen unabhängig ist. (...) Dem, der den Geist bildet, muß zuletzt die Herrschaft werden."

Ein Mann der Einheitn und der Versöhnung

Solche Äußerungen werden dem Dichter natürlich gerade jetzt im Schillerjahr wieder vorgeworfen. Doch man erinnere sich: Jede Nation von einigem Format hegt den Mythos einer gewissen Auserwähltheit und eines gewissen "Auftrags", den sie - angeblich oder wirklich - zu erfüllen hat. Die Amerikaner glauben, sie müßten der ganzen Welt die "Demokratie" bringen. Die Russen sind, laut Dostojewski, dazu bestimmt, früher oder später das wahre Reich Jesu Christi aufzurichten. Die Franzosen haben es mit der "Clarté", die angeblich speziell bei ihnen leuchtet, die Engländer mit dem "gesunden Menschenverstand" usw. usw.

Die deutsche Variante in der Version von Schiller nimmt sich in dieser Gesellschaft durchaus gemäßigt aus. Ihre Pointe liegt ja just darin, daß die Deutschen an sich, von Haus aus, keinen spezifischen Nationalcharakter haben und folglich auch keine naturbedingte, genetisch vorgegebene Priorität gegenüber irgendeinem anderen Volk. Sondern sie gewinnen diese Priorität erst und nur insofern, als sie sich selbst erziehen, und zwar ästhetisch erziehen, ohne jeden Rohrstock, ohne jeden Zwang, einzig durch freies Spiel und Vorbild, durch die Aufrichtung eines überdimensionalen lebenden Bildes gewissermaßen, an dem sich andere orientieren können, eines Bildes aus "Anmut und Würde", wie Schiller auch gesagt hat.

Dieser herrliche Geist ist leider so früh hingegangen und unter so viel Schmerzen - aber vielleicht ist er, geistes- und nationalpolitisch gesehen, auch genau rechtzeitig hingegangen. Er hat die napoleonische Totalinvasion, die Auflösung des alten Reiches, die Befreiungskriege und die Restauration nicht mehr erlebt, Entwicklungen, die ganz konkrete politische Aussagen erforderten, welche der hochpolitische und stürmische Schiller mit Sicherheit auch gemacht hätte. Vielleicht wäre da manches Kontroverse, die Geister notwendig Spaltende untergekommen, und Schiller wäre möglicherweise ein Mann der Partei geworden, nach dieser oder jener Richtung. Glücklicherweise, so möchte man beinahe sagen, ist das ihm (und uns) erspart geblieben.

Schon den unmittelbar nachfolgenden Generationen stand er unveränderbar als ein Mann der Einheit und der Versöhnung, der Versöhnung auf höchstem, anspruchsvollstem Niveau, vor Augen. Nichts von jenem Gemeinen und Hinterhältigen, wie es ja auch in der besten, gelungensten Politik vorkommt, reicht an ihn heran. Und so könnte die ausführliche und gründliche Erinnerung an ihn im Schiller-Jahr 2005 wirklich ein probates Mittel sein, um uns aus der fürchterlichen geistigen Erniedrigung, in der wir uns zur Zeit in Deutschland befinden, herauszuhelfen.

Friedrich Schiller (1759-1805), Pastell von Ludovike Simaniwiz: "Verwegen, pathetisch, zupackend"

Friedrich Schiller im großen Saal der Karlsschule (Holzstich, 1859): "Schärfster Erziehungsstil"

 

Prof. Dr. Günter Zehm, Jahrgang 1933, lehrte Philosophie an der Universität Jena.


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