© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/05 06. Mai 2005

Auf das Verstehen kommt es an
Theater verwandelt Literatur: Schillers Wahrheiten müssen den Zuschauer im Innersten treffen - wie immer sie dargeboten werden
Jens Knorr

"Eine würdige Sache verfechtet ihr, nur mit Verstande,
Bitt ich! daß sie zum Spott und zum Gelächter nicht wird!"

Das Regietheater macht Theatergänger Köhler unseren, also seinen, Schiller kaputt. Es zerlegt unsere klassischen Dramen in Stücke und setzt sie nach Gutdünken wieder zusammen. Dabei wollen wir doch alle, alle endlich wieder stolz sein dürfen auf unseren Schiller, weil der nämlich mit Goethe und so vielen anderen die deutsche Kulturnation begründet hat. Und überhaupt, was sollen die vielen jungen Leute mit Migrationshintergrund, so sie sich in deutsche Stadttheater verirren, für einen Eindruck von deutscher Identität bekommen?

Der Eindruck von einer zerlegten und wieder zusammengesetzten deutschen Identität wäre sicherlich nicht der falscheste. Ja, es ist sogar gut möglich, daß Migranten, in deren Herkunftskulturen kein Professor Gottsched gewütet hat, weniger Probleme mit einem zerlegten Schiller haben als deutsche Theatergänger, aus deren moralischen Anstalten sich der Gestank von verbranntem Hans Wurst noch immer nicht verzogen hat.

Theatergänger Köhler heißt mit Vornamen Horst und ist hauptberuflich Präsident der Bundesrepublik Deutschland. Zu den Tätigkeitsfeldern eines Bundespräsidenten gehören Grußworte, und eins davon hat Horst Köhler am 17. April zu einer Schillermatinee im Berliner Ensemble gehalten, das vor langen Jahren die Bühne des neuen Schiller aus Augsburg war. Köhlers darin offenbartes Verständnis von Kultur und Kunst entspricht seinem Verständnis von Gesellschaft und ihrer Ökonomie, das er einen knappen Monat zuvor einer fassungslosen Öffentlichkeit über das Arbeitgeberforum "Wirtschaft und Gesellschaft" zu kommunizieren versuchte. Sie sind museal. (Internet: www.bundespraesident.de )

Das naive Bild, das sich der Bundespräsident von seinem Schiller macht, kann mit des Dichters Leben und Dichtung leicht widerlegt werden. Der turbokapitalistische Mr. Hyde scheint wenig von der einen oder anderen Ballade für das Leben behalten zu haben, die ihm der kulturbeflissene Dr. Jekyll zu lernen aufgab. Und sollte der Schein trügen: Was hat's gefruchtet? Nun hat Köhler das Mörike-Gymnasium zu einer Zeit besucht, da wenigstens im Ländle das bürgerliche Kreditsystem noch soweit intakt war, daß Schillers "Bürgschaft" als zeitlose Reimerei über die Einhaltung von Treueschwüren gelesen werden konnte und nicht als Gedicht über die Einhaltung von Zahlungsfristen gelesen werden mußte.

Zu Köhlers Schulzeiten fiel Theater noch ausschließlich in das Ressort des Deutschlehrers, Darstellendes Spiel als Unterrichtsfach gab es nicht. Heute kann Darstellendes Spiel in einem grundständigen Studiengang oder Aufbaustudiengang studiert werden. Als reguläres Unterrichtsfach wird es in Hamburg von der Grundschule bis zum Gymnasium und in anderen Bundesländern in Sekundarstufe und gymnasialer Oberstufe angeboten.

Auf Schiller konnten sich die Deutschen von jeher einigen, und über Schiller konnten sie sich von jeher zerstreiten: Kommunisten und Nationalsozialisten, Hans Otto und Gustav Gründgens, Alexander Abusch und Horst Köhler. Auf und über Lessing nicht! Schiller, sagt Friedrich Dürrenmatt, zitiert Karl Mickel, ist ein Dichter für ernste Zeiten. Ein Bändchen Schiller paßt noch auf jedes Katheder, in jeden Tornister und ein Schiller-Zitat auf jeden Grabstein.

Geht's uns schon wieder so dreckig, daß uns die Mäuler mit einer Notration deutschen Idealismus' gestopft werden sollen? Fühlt sich die politische Klasse so bedroht, daß sie das Theater als eine moralische Anstalt wiederbelebt haben will, wo uns das Selbsthelfertum schon ausgetrieben würde? In Kürze sollen Empfänger von Arbeitslosengeld II Theaterkarten zu ermäßigten Preisen kaufen dürfen. Es besteht Mitwirkungspflicht! Oder ist Schiller bereits wieder ein so toter Hund, daß ein deutscher Präsident, halten zu Gnaden, des Dichters Wort nicht fürchten muß? Dabei hatte ihm das Regietheater im 20. Jahrhundert die Zähne gerade erst wieder eingesetzt, die ihm das deutsche Bildungsbürgertum des 19. ausgeschlagen hatte.

Treudummer Texttransport für die Gymnasialstufe

Werktreu war die ungekürzte "Kabale und Liebe" an den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin (Regie: Erforth und Stillmark, 1970) ebenso wie "Die Braut von Messina" an der Freien Volksbühne (Ruth Berghaus, 1990) in der Bearbeitung durch Karl Mickel, den Dichter der Sächsischen Dichterschule, der die Chöre neu gefaßt hat. Werktreu waren sowohl die Wende-"Räuber" an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz (Frank Castorf, 1990) als auch die kommersliederlichen am Schillertheater (Alexander Lang, 1990), aber nicht nur hauptstädtische konnten weltstädtische Inszenierungen sein, sondern auch eine bestürzende Phantasie über "Kabale und Liebe" am Schauspielhaus Chemnitz (Martin Nimz, 1995). Es waren diese Arbeiten nach Schiller, die das Verständnis von Theater und Gesellschaft bestimmt haben und bestimmen! Sie haben die Schiller-Lektüre nicht ersetzt, sie haben den Genuß an den klassischen Werken nicht vereitelt, sondern reiner gemacht. Ganz im Gegensatz zu dem landauf, landab zu besichtigenden, mehr oder minder treudummen Texttransport für die Gymnasialstufe, mit dem die gebeutelten deutschen Stadttheater ihre Besucherstatistik aufzuhübschen sich mühen. Seinen unzerlegten Schiller kann Horst Köhler auch heute noch abfeiern, wenn er möchte, mehrmals den Monat, überall in Deutschland. Aber warum will er mir meinen Schiller nehmen?

Die Rede des Präsidenten liefert den Schlüssel für ein Verständnis von Theater, das auf Stillstellung, ja, Vernichtung hinausläuft, gleich mit. Ein gutes Jahrhundert, nachdem sich das Theater von der Literatur und die Theater- von der Literaturwissenschaft emanzipiert haben, setzt Köhler den dramatischen Text einem Gemälde, einem romantischen Gemälde, gleich, das auf der Schaubühne also nur noch zu enthüllen und auszuleuchten wäre.

Aber woher glauben wir eigentlich zu wissen, wie ein Theatergemälde auszusehen hat, das wir noch gar nicht zu Gesicht bekamen? Ist die Aufführung lediglich die äußere Exekution des dramatischen Kunstwerks, wie Hegel einforderte, oder ist erst die Aufführung das Kunstwerk? Der Leser Köhler hat sich seine Bilder, Theaterleute haben sich ihre Bilder von dem Text gemacht. Wessen Bilder sind die richtigen, wessen Schiller der wahre? Ist der geschriebene der gesprochene Text? Ist Texttreue gleich Werktreue? Was wirkt der Text, was wirkt die Bühne?

Theater als Produktionsweise zeichnet sich dadurch aus, daß niemand an deren Anfang, zu Produktionsbeginn, das vorläufige Ergebnis, die Inszenierung, kennt. Die Theaterprobe hat ihre eigenen Gesetze. Theater ist eine transitorische Kunst. Die findet nur in dem Augenblick statt, da Schauspieler spielen, da überhaupt alle Künste - die "Schwesterkünste" - zusammenspielen, nicht vorher, nicht nachher. Auf diesen Augenblick hin wird geprobt, und er bringt mehr und zugleich weniger als das Geprobte, nichts Meßbares, nichts Verwertbares. Das Gemälde, um Köhlers schiefen Vergleich aufzugreifen, wird in jeder Vorstellung neu gemalt und zugleich übermalt, geschaffen und vernichtet. Seltsame Ware, eigentlich unverkäuflich, mit der die Gaukler da hausieren gehen.

Das gesagte Wort besagt noch gar nichts

Theater kommt ohne Literatur aus, aber wenn es Literatur benützt, dann verwandelt es diese. "Wir verstehen Stücke besser", schreibt Karl Mickel 1988, "wenn wir sie spielen, d.h. probieren: allerdings nur, sofern wir schauspielerische Beliebigkeiten nicht dulden. Die Probe ist experimentelle Poetik; wir erkennen Gehalte, weil wir konkrete Aufgaben für den Darsteller ausmitteln." Die Gehalte verstecken sich in und zwischen den Wörtern, aber das gesagte Wort besagt noch gar nichts.

In seinem Aufsatz "Stufen des Verstehens. Zu Schiller: Die Bürgschaft" von 1966 unterschied Mickel vier Stufen des Verstehens: das naive, das soziologische, das historische und das aktuelle Verstehen. Eine Aufführung, die den Zuschauer treulich durch den kompletten Text führt, kann Stück, Gehalt und Zuschauer komplett verfehlen, eine Aufführung, deren Bestandteil ein zerlegter und nach Gutdünken nicht wieder, sondern überhaupt erst zusammengesetzter Text ist, kann dem Stück auf den Grund kommen, seine Gehalte offenlegen und gewichten und seine Zuschauer im Innersten treffen. Umgekehrt gilt das selbstverständlich auch! "Ein ganzer Tell, ein ganzer Don Carlos! Das ist doch was", meint Köhler. Doch nicht die Quantität des dargebotenen Textes entscheidet darüber, ob Regisseur, Bühnen- und Kostümbildner und Schauspieler und all die anderen an der Produktion Beteiligten den ganzen "Tell", den ganzen "Don Carlos" auf die Bühne gebracht haben, sondern vielmehr, ob sie es vermochten, jedem Augenblick Theater, um dessentwillen sich allerhand Leute in den fensterlosen Häusern versammeln, diese Stufen des Verstehens einzuschreiben.

Schiller kann in Teutschland und Deutschland spielen

Dabei ist Schiller ihr Gewährsmann. Der war sich der Differenz zwischen dramatischem Kunstwerk und dessen Realisierung auf dem Theater nur allzu bewußt: "'Don Carlos' war schon früher für die Bühne zusammengezogen, und wer dieses Stück, wie es jetzt noch gespielt wird, zusammenhält mit der ersten gedruckten Ausgabe, der wird anerkennen, daß Schiller, wie er im Entwerfen seiner Pläne unbegrenzt zu Werke ging, bei seiner spätern Redaktion seiner Arbeiten zum theatralischen Zweck durch Überzeugung den Mut besaß, streng, ja, unbarmherzig mit dem Vorhandenen umzugehen."

Das schrieb 1815 rückblickend einer, der es unbedingt wissen mußte, hatte er doch als Leiter des Weimarer Hoftheaters mit dem Entstauber und Problematisierer Schiller beruflich zu tun gehabt. Der geheime Rat Johann Wolfgang von Goethe erinnerte sich, daß Schiller "den Gedanken faßte, daß man dasjenige, was man an eigenen Werken getan, wohl auch an fremden tun könne; und so entwarf er einen Plan, wie dem deutschen Theater, indem die lebenden Autoren für den Augenblick fortarbeiteten, auch dasjenige zu erhalten wäre, was früher geleistet; der einnehmende Stoff, der anerkannte Gehalt solcher Werke sollte einer Form angenähert werden, die teils der Bühne überhaupt, teils dem Sinn und Geist der Gegenwart gemäß wäre".

Ein ganzer Schiller ist der revolutionäre und konterrevolutionäre, der anarchistische und monarchistische, der staatsverdrossene und staatsfromme, der formbewußte und sich an der Form rettungslos verhebende, der sprachgewaltige und sprachlose Schiller. Es ist der vorgeführte Schiller. Er kann in altem verfallenem Schloß und im Palast der Republik spielen, in Wallensteins Lager und am Hindukusch, im Staatsgefängnis und auf dem Bahnhof von Bad Kleinen. Er spielt in Teutschland und Deutschland.

Mit Carlos fühlen, mit Posa denken, mit Philipp leiden, aber als Großinquisitor handeln: Ob der Grundsatzredner beim Arbeitgeberforum "Wirtschaft und Gesellschaft" Schillers Wahrheiten überhaupt aushielte, wenn er sie denn kennte? Ein Schiller mit ganzen Folgen, die Schaubühne nicht als Wegweiser durch das bürgerliche Leben, sondern aus dem bürgerlichen Leben hinaus - das wäre doch mehr als nur was.

Friedrich Schillers Triumph in Leipzig nach Aufführung der "Jungfrau von Orléans" (Holzstich, 1859, nach einer Zeichnung von Wilhelm Camphausen): Was wirkt der Text, was wirkt die Bühne?

 

Jens Knorr, Jahrgang 1961, ist Regisseur und Dramaturg.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen