© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/05 06. Mai 2005

Die Brücke
Den Amerikanern entgegen
Gottfried J. Funk

Drei Möglichkeiten. Tod in den letzten Stunden, russische Kriegsgefangenschaft, amerikanische Kriegsgefangenschaft. Es dürfte jedem Menschen nachvollziehbar sein und bleiben, daß wir im Endkampf an der Enns in Oberösterreich stehenden Soldaten der 9. SS-Panzerdivision Hohenstaufen alles daransetzten, selbst und noch mit möglichst vielen auf der Flucht befindlichen Frauen und Kindern und alten Leutchen über die Enns in die Zone der Amerikaner zu gelangen. Dies natürlich möglichst, bevor die uns nächstgelegene kleine Brücke von den Russen gesperrt würde.

Noch mit einem kleinen Teil unserer Kompanie im Treck, verlor unser schon arg ramponiertes Sanitätsfahrzeug ein Rad. Es hopste für uns unerreichbar den steilen Hang hinunter in den reißenden Fluß. Wir mußten zu viert zu Fuß weiter und hatten noch an die 15 Kilometer vor uns. Es hatte bereits zu dämmern begonnen, und noch vor Mitternacht mußten wir die Brückenmitte überquert haben. Auf unserem Laufmarsch kamen uns plötzlich zwei junge Frauen entgegen, offensichtlich nicht wissend, wo hier "hinten und vorne" war.

Was dann geschah, ist mir unbegreiflich. Mein Kamerad Rudi Kühdorf verschwindet mit den beiden Frauen in einem Heuschober und heißt uns, getrost weiterzutippeln. Er würde mit den beiden später nachkommen. Und er kommt nach, und zwar sehr bald mit einem Pferdegespann mit einem Leiterwagen, der vollbeladen ist mit Flüchtlingen, die auch über die besagte Brücke wollen. Wir finden noch ein Plätzchen und steigen auf. Nach wenigen Minuten kommen uns zwei "GIs" entgegen, die abspringen und bei uns Leibesvisitation machen und alles einheimsen, was ihnen wertvoll erscheint. Ich klemme meinen Verlobungsring hastig ins Ohr verweise auf meine Rot-Kreuz-Binde und versuche dem Ungehobelten verständlich zu machen, daß ich die Verwundeten rasch zu einem Verbandsplatz bringen muß. Der hört gar nicht hin und verschwindet mit den anderen ebenso rasch, wie sie gekommen waren.

Zwanzig Minuten vor Mitternacht erreicht unser Gefährt endlich die schmale Brücke. Wieder sind es en paar Kaugummikauende, die uns mit "Mach schnell, Kamerad" den Weg weisen, wo es langgehen soll. Kaum sind wir auf der anderen Seite, entdecken wir auch schon auf der Seite, von der wir gekommen, an die Dutzend Russen, die wie Aasgeier darauf warten, daß die Brücke gesperrt wird.

Ohne militärische Begleitung fahren wir mit unserem Gespann in Richtung Terrnberg. An einem Gleisübergang streikt plötzlich der Leiterwagen. Es geht nicht weiter. Wir springen ab und machen uns zu Fuß auf den Weg, der uns beschrieben wurde. Nach gut einer halben Stunde Weg kommen wir an eine amerikanische Kontrollsperre.

Wir werden rasch durchsucht und angeherrscht, den Weg weiterzugehen. Auf dem etwa 100 Meter entfernten Kamm angekommen, sehen wir dann vor uns - stehend, hockend, liegend, murmelnd, schlafend - sicher an die tausend Zusammengetriebener. Als wir uns auch niederlassen wollen, ruft uns einer zu: "SS weiter hinten zum Gehöft!" Wir ahnen zwar nicht, was das soll, folgen aber einem Amerikaner, der uns den Weg zeigt. Es sind noch nicht viele hier, und ich finde einen abgestellten Karren, der noch nicht besetzt ist, klettere hoch, haue mich hin und schlafe augenblicklich ein.

Stimmen in meiner Nähe machen mich wach. Als ich die Augen öffne und über den Wagenrand schaue, sehe ich das ganze Ausmaß des Zusammentriebs: Auf einer Fläche größer als zehn Fußballfelder bis weit hinab zur Enns liegen und kauern dicht beieinander sicher an die zehntausend Feldgraue. Unten an der Enns entdecke ich eine Rot-Kreuz-Fahne. Das könnten meine Kameraden sein. Ich mache mich auf, an den Liegenden und Kauernden vorbei, und erreiche nach fünf Minuten die, die wir ziehen lassen mußten, als wir tags zuvor das Rad unseres Fahrzeug verloren hatten.

In den folgenden Wochen in Gefangenschaft, weitestgehend bei Wind und Wetter unter freiem Himmel, reduziert sich mein Körpergewicht auf 46 Kilogramm. Am 1. Juli 1945 werden wir Jammergestalten bergan wie Vieh ins Konzentrationslager Ebensee getrieben; ich, von ehemaligen Häftlingen des Lagers meiner Schuhe beraubt, fußlappenumwickelt, mit einer schmerzenden Ruhr im Bauch.

Gottfried J. Funk, Gladbach


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