© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/05 06. Mai 2005

Am Bodensee
Plündernde Franzosen
Heinz Flöter

Als Ende 1943 die Bombenangriffe auf Berlin immer häufiger und heftiger wurden, verließen meine Eltern, meine Schwester und ich die Stadt und zogen nach Hohenpeißenberg in Oberbayern. Dort wurde ich im Herbst 1944 eingeschult. Mir wurde immer wieder eingeschärft, bei jedem Flugzeuggeräusch sofort unter einem Busch zu verschwinden, weil die alliierten Jäger auf alles schossen, was sich am Boden bewegte, auch auf Kinder oder auf Bäuerinnen auf dem Feld.

Im Frühjahr 1945 erreichte die Front auch Bayern. Mein Vater, der wegen einer schweren Lungenerkrankung nie Wehrdienst geleistet hatte, mußte mehrere Übungen mit dem örtlichen Volkssturm machen. Diese Volkssturmeinheit kam jedoch nicht mehr zum Einsatz und wurde aufgelöst, weil es an Bewaffnung und Ausrüstung fehlte. Als mein Vater einmal von Schongau kam, berichtete er, daß dort Schützengräben ausgehoben würden. Seit Mitte April konnten wir von Westen her Artilleriefeuer hören.

Am 27. April 1945 fuhren wir mit dem letzten Zug von Peißenberg in Richtung Innsbruck-Feldkirch. Der Zug war völlig überfüllt und führte auch einige Flak-Geschütze mit, die unterwegs mehrfach auf Flugzeuge schossen.

Den langen Weg von Feldkirch zur Schweizer Grenze in Buchs legten wir zu Fuß zurück. Mein Vater wurde nicht in die Schweiz hereingelassen, er bestand jedoch darauf, daß meine Mutter, die neben der deutschen Staatsbürgerschaft auch noch ihren Schweizer Paß hatte, mit meiner Schwester und mir für die zu erwartende schwere Zeit Unterschlupf bei den Großeltern im Tessin suchte. Der "Morgenthau-Plan" zur Umwandlung Deutschlands in einen primitiven Agrarstaat und der "Nathan-Kaufmann-Plan" zur Zwangssterilisierung des deutschen Volkes rechtfertigten eine pessimistische Einstellung.

Als wir nach Deutschland zurückkehrten, wollte die französische Besatzungsmacht in Lindau zunächst unser Gepäck beschlagnahmen, was erst nach langen Verhandlungen verhindert werden konnte. Sie bestand aber darauf, daß meine Mutter am selben Tag wieder in die Schweiz zurückkehren solle, was sie aber nicht tat. Sie tauchte unter und lebte nun ohne gültigen Ausweis weiter illegal in Deutschland. Lebensmittelmarken bekam sie nur "hintenherum" dank der Hilfsbereitschaft einer Gemeindeangestellten in Bodolz.

Ich erinnere mich noch gut an jene Tage. Überall ausgehungerte Menschen, arrogante französische "Sieger", leere Geschäfte, keine Wohnung. Der Einmarsch der Franzosen im Kreis Lindau war noch unvergessen. Das Krankenhaus in Aeschach ist lange Zeit voll von vergewaltigten Frauen gewesen, ein Schrankenwärter wurde in seinem Häuschen bei Bodolz erschossen, weil er sich nicht von seiner Uhr trennen wollte, im Café Spengler in Schachen war alles verwüstet worden, Porzellan und Mobiliar hatten die Franzosen aus den Fenstern geworfen. Als der Beute-Pkw eines französischen Offiziers aus unbekanntem Grund Wochen nach Kriegsende abbrannte, wurde ein Teil von Schachen für zwei Tage zum Plündern für das französische Militär freigegeben. Die Einwohner mußten solange ihre Häuser verlassen und alle Schlüssel stecken lassen. Ein junger Mann wurde wegen seiner Äußerung, man werde die Franzosen eines Tages mit dem Besenstiel wieder herausjagen, halbtot geschlagen und dann mehrere Monate eingesperrt.

Die französische Armee war bis Lindau vorgestoßen, ohne daß es hier noch nennenswerte Kampfhandlungen gab, konnte aber zunächst ihren Marsch nach Vorarlberg nicht fortsetzen, weil auf dem Berg oberhalb von Bregenz, dem Pfänder, eine kleine Einheit der Wehrmacht mit zwei 8,8 Zentimeter-Geschützen in Stellung lag. Die Franzosen gruben schwere Geschütze auf dem Eisenbahndamm ein, der Lin-dau mit dem Festland verbindet, so daß sie durch die Stadt gedeckt waren, selbst aber durch indirekten Beschuß ihrer schweren Batterien Bregenz erreichen konnten. Der französische Kommandeur drohte den Wehrmachtsoldaten, die Stadt Bregenz zu beschießen. Daraufhin zog der kleine Haufen ab, so daß die Franzosen Bregenz und Feldkirch besetzen konnten. Wahrscheinlich wurde es uns durch den Widerstand dieser Gruppe ermöglicht, Ende April 1945 über Feldkirch in die Schweiz zu kommen.

Heinz Flöter, Singen


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