© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/05 06. Mai 2005

Total besiegt
Kriegsende und Neubeginn in der mitteldeutschen Provinz
Fritz Schenk

Freitag, 13. April 1945: Mein Elternhaus in Helbra, einer Zehntausend-Seelen-Gemeinde am Rande der Kreis- und "Lutherstadt Eisleben" ist das letzte in einer Sackgasse, die parallel zur Hauptstraße verläuft. Es grenzte damals rechtsseitig an ein Sägewerk mit Holzbauwerkstatt, in dem in Baracken auch Zwangsarbeiter (Männer, Frauen und Kinder) aus Polen, Frankreich und Rußland untergebracht waren. Deren Bewachung war für die damaligen Verhältnisse relativ salopp. Wir konnten uns immer wieder unbeobachtet durch den Gitterzaun mit ihnen notdürftig verständigen. Meine Mutter hatte nachts immer wieder Brot, Kleidung (vor allem für zwei dort geborene Kinder) und einfache Medikamente oder Verbandszeug über den Zaun geworfen. Die kleine Wachmannschaft und die Eigentümer hatten sich bereits in der Nacht "abgesetzt". Nach Ertönen des Panzeralarms begannen die Häftlinge mit dem Niederreißen der Zäune, kamen auch in unseren Garten und versprachen uns zu beschützen, falls die einrückenden Sieger uns bedrängen sollten. Zunächst waren sie aber damit beschäftigt, die Vorratskeller des Unternehmers zu plündern und sich endlich wieder einmal richtig satt zu essen.

Mein Vater und ich gingen zum Grundstück unseres Gegenübers, durch dessen Spalten des Zaunes wir Einblick in die Hauptstraße hatten. Sie war zunächst menschenleer. Aus den oberen Fenstern wagten die dortigen Anwohner (wie wir) vorsichtig erste Blicke auf die Straße. Nachdem etwa 20 Panzer langsam an uns vorbeigerollt waren, machten sie halt, die Besatzungen sprangen ab, sicherten die Straße, zwei Soldaten kamen auf unseren Zaun zu. Links neben uns wurde eine kleine Tür aufgetreten, zwei weitere Soldaten kamen herein, die Gewehre im Anschlag. Wir hoben instinktiv die Hände, sie klopften uns nach Waffen ab, es fiel kein Wort, dann gingen sie wieder auf die Straße, wir hörten einige Kommandos, die Panzer setzten sich langsam wieder in Bewegung, die Soldaten gingen mit Gewehren im Anschlag neben den Panzern her. "War's das?", fragte mein Vater eher sich selbst - ja, das war's!

Am Sonntag nahm dann eine Ortskommandantur in der Hauptschule Quartier. Doch auch sie war zunächst mit sich selber beschäftigt. Die einzige Einschränkung für uns "Besetzte" bestand zunächst nur aus dem strikten Ausgehverbot von 20 Uhr bis sieben Uhr am nächsten Morgen. Ein weiterer Trupp Amerikaner belegte unser Nachbargrundstück. Dessen großer Lagerplatz wurde Fahrzeug- und Kraftstoffdepot, Reparaturwerkstatt und Magazin für alle möglichen Versorgungsgüter. Wir kamen nicht aus dem Staunen heraus, mit welcher Überfülle an Material, technischem Gerät und Lebens- wie Genußmitteln die Amerikaner ausgestattet waren. Unsere verschleppten Zwangs-Nachbarn fühlten sich wie aus der Hölle in den Himmel versetzt. Die Verbrüderungsszenen mit den Amerikanern nahmen kein Ende - und auch wir profitierten davon, daß sie sich nun auch uns gegenüber erkenntlich zeigen wollten und es jetzt sogar konnten. Sie taten es mit Zigaretten, Kaffee und Lebensmitteln, die sie reichlich von den Siegern zugesteckt bekamen.

Noch am Nachmittag des ersten Besatzungstages trafen sich die Freunde meiner Eltern in unserem Haus. Das vorherrschende Gefühl war Erleichterung, nicht eigentlich "Befreiung". Alle hatten unter den Nazis schwer zu leiden gehabt, waren wiederholt verhaftet, unter Mißhandlungen verhört, erniedrigt und beruflich degradiert worden. Ein Onkel hatte fast fünf Jahre KZ Sachsenhausen hinter sich und war durch Mißhandlungen zum Krüppel geworden. Aber jetzt wurde erst einmal aus selbstgekeltertem Obstwein auf "unser" Kriegsende angestoßen. Noch war zwar nicht restlos Schluß, aber lange konnte es nicht mehr dauern. Das war aber auch schon das einzige erleichternde Gefühl. Zunächst überwog die Unsicherheit. Wir wußten aus den Auslandsnachrichten, daß Deutschland ein Besatzungsregime bevorsteht, wie sich das aber in der Praxis anlasse, war unbekannt.

Dienstag, 8. Mai 1945: In den gut drei Wochen seit dem Einmarsch der Amerikaner war viel geschehen. Die Besatzer hatten Quartier bezogen. Unsere Straße mußte komplett für "militärische Einquartierung" geräumt werden. Als Sackgasse mit dem benachbarten Depot hatte sie sich dafür als zweckmäßigste Lösung angeboten. Wir hatten Glück. Inzwischen war mit dem Aufbau deutscher Zivilverwaltungen begonnen worden, und daran war meine Familie beteiligt. Zwei Onkel und drei aus dem alten Freundeskreis saßen in der neuen provisorischen und kommissarischen Gemeindevertretung, und mein Vater und Onkel Otto (jener mit KZ-Vergangenheit) waren für den Neuaufbau der Kreisverwaltung nach Eisleben "abkommandiert" worden. Das war der Hintergrund dafür, daß wir in unserem Haus bleiben konnten. Die unteren Räume belegten drei Offiziere, wir mußten in den oberen zusammenrücken. Meine Mutter wusch aus eigenem Antrieb die Kleidung der Offiziere, wurde dafür mit Bergen von Seife und Waschmitteln in einer Qualität ausgestattet, die sie so bis dahin nie gekannt hatte. Auch was sie ihr an Lebensmitteln hinstellten, wovon sie nur hin und wieder mal ein Frühstück zubereiten brauchte, hatte uns noch über den kommenden harten Winter hinweggeholfen.

Am frühen Nachmittag traf sich der Freundeskreis wieder bei uns. Es sollte eigentlich der kommunale Neuanfang besprochen werden, aber dazu kam es nicht. Am Tag zuvor, dem 7. Mai 1945, hatte die Deutsche Wehrmacht in Reims die bedingungslose Kapitulation der Deutschen Wehrmacht vor den Westalliierten erklärt, heute sollte diese in Berlin im Beisein der Sowjets nachvoll-zogen werden. Das war Gegenstand der Debatte: Die Wehrmacht hat kapituliert! Wo aber war oder ist die Reichsregierung? Täglich hörten wir über BBC-London, aus welchem Versteck wieder eine der Nazi-Größen gekrochen und von den Siegern in Gefangenschaft genommen worden war. Daß sich Hitler, Goebbels und Himmler durch Selbstmord aus der Verantwortung gestohlen hatten, war schon bekannt. In welches Nichts hat diese Verbrecherbande uns Deutsche und die Welt gestürzt? - das war die Quintessenz der Debatten, die für mich eine totale Niedergeschlagenheit und tiefe nationale Scham erkennen ließen. Den Anflügen eines gewissen Gefühls der Befreiung von vor drei Wochen war an diesem Tag die Erkenntnis der absoluten Niederlage und staatlichen Ohnmacht gefolgt.

In der zweiten Junihälfte trafen wir uns im Konferenzzimmer einer Gaststätte. Neben den bisherigen Akteuren dieses zaghaften Wiederbeginns nahmen daran auch bisher unbeteiligte Altmitglieder der SPD von vor 1933 und einige Neulinge in meinem Alter teil. Es ging um die Wiedergründung eines Ortsvereins der SPD. Das ging auf einen Tip des Politoffiziers der Amerikaner zurück, der auch mit zwei Soldaten und einem Dolmetscher das Treffen beobachtete. Die Amerikaner wußten schon, daß in Berlin die Sowjets mit einem Besatzungsbefehl die Bildung von KPD, SPD, einer liberalen und einer christlichen Partei zulassen wollten.

In der Nacht vom 29. auf den 30. Juni 1945 rückten die Amerikaner Richtung Westen ab. Tage zuvor hatten sie schon mit der Räumung ihrer Depots begonnen. Sie nahmen nur das direkte Kriegsgerät mit. Schadhafte Lastwagen, Anhänger, zwei große Zelte, komplette Kabelrollen und Mengen von Treibstoffkanistern, die sie einfach nur geöffnet, umgestoßen und den Inhalt hatten auslaufen lassen, ließen sie zurück. Die Reste schütteten wir zusammen und versteckten die Beute im Keller. Die französischen Zwangsarbeiter nahmen die Amerikaner gen Westen mit, die aus dem Osten mußten bleiben.

In der Nacht zum ersten Juli wurden unsere örtlichen Kommunisten aktiv und befestigten an den Laternen der Hauptstraße Transparente. "Wir grüßen die sowjetischen Befreier", "Es lebe die siegreiche Rote Armee", und Ähnliches stand darauf, auf einigen sogar in kyrillischen Lettern. Wir wußten sofort, daß das von langer Hand vorbereitet worden war. Dann rückten die Sowjets an. Unsere Enttäuschung war unbeschreiblich. Eben noch hatten wir den Überfluß der Amerikaner bestaunt, und nun erlebten wir eine primitive Truppe mit Pferden und Panjewagen, darauf unterschiedlichstes Beutegut - Musikinstrumente, Fahrräder, Nähmaschinen, Säcke, aus denen Kleidungsstücke hingen. Die meisten Soldaten mußten marschieren, nur die Offiziere mit breiten Schulterstücken und Ordensbändern wurden gefahren. Militärbagage hatten sie nur wenig. Die Lastwagen und Jeeps waren amerikanischer Herkunft wie wir sie soeben noch bestaunt hatten. Die Soldaten schleppten Rucksäcke, manche sogar Patronengurte, und sie hatten ihre Schlafdecken um die Schultern gerollt.

Auch die Einquartierung unterschied sich von der der Amerikaner. Nur wenige Häuser wurden für Offiziere requiriert, die Masse der Soldaten kam in die Schulen und wurde dort "unter Verschluß" gehalten. Erst später konnten wir uns den Grund dafür erklären, als wir von den Vergewaltigungen, Plünderungen und willkürlichen Morden hörten, die sich dort zugetragen hatten, wo die Sowjets als Kampfverbände eingerückt waren.

Schon in den nächsten Tagen bekamen wir auch das neue politische Regiment zu spüren. Das erschütterndste und für uns grausamste Erlebnis war, wie die östlichen Zwangsarbeiter aus unserer Nachbarschaft von einem Sonderkommando in der Nacht aus ihren Quartieren auf Lastkraftwagen geprügelt und abtransportiert wurden. Das Schreien der Frauen und Kinder war unerträglich. Meine Mutter konnte nächtelang nicht mehr schlafen.

Mein Vater und mein Onkel wurden bei der Eislebener Kreisverwaltung nicht mehr gebraucht; sie zogen sich in die Verwaltung der regionalen Wasserversorgung zurück. Landrat wurde der Altkommunist Werner Eggerath, der wenig später zum thüringischen Ministerpräsidenten avancierte. Sein Stellvertreter wurde zunächst Otto Gotsche, ebenfalls ein Altkommunist. Auch er ging bald nach Berlin, wurde Mitarbeiter Walter Ulbrichts und später dessen Staatssekretär im Amt als Vorsitzender des Staatsrates der DDR. Ähnlich schnell ging es auch in unserer Gemeinde mit der Ernennung des Altkommunisten Franz Lontzek zum Bürgermeister, der wiederum freie Hand hatte, seine Genossen auf weitere Posten zu setzen.

Unterdessen gründeten wir die SPD wieder. Sie wurde stärkste Partei vor den Kommunisten, der Grund dafür, weshalb die Sowjets mit Ulbricht ab Herbst 1945 die Gründung der SED vorbereiteten. Zu diesem Zeitpunkt waren schon drei der alten Freunde aus unserem Kreis in den Westen geflüchtet. Sie hatten erkannt, daß wir aus dem nationalsozialistischen Regen nun in die sowjetsozialistische Traufe kamen. Was ab Herbst 1945 mit der sogenannten Bodenreform, den Enteignungen in der übrigen Wirtschaft und der völligen sozialistischen Umgestaltung Mitteldeutschlands geschah, droht mehr und mehr der historischen Forschung zu entgleiten. Es macht jedoch genau jenes zweite tragische Kapitel deutscher Geschichte aus, das es nach meinem Erleben verbietet, den 8. Mai 1945 als "Tag der Befreiung" zu bezeichnen oder gar zu feiern.

 

Fritz Schenk war von 1971 bis 1988 neben Gerhard Löwenthal Moderator des ZDF-Magazins.

Foto: Rotarmisten und US-Soldaten treffen und begrüßen sich am 25. April 1945 bei Torgau an der Elbe


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