© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/05 06. Mai 2005

Uhrenraub
Glimpflich davongekommen
Bertolt Brandt

Den 8. Mai 1945 erlebte ich als 15jähriger in Türnitz, Niederösterreich. Wir, meine Mutter (Österreicherin), mein jüngerer Bruder und ich, waren vor den alliierten Bombenangriffen auf unsere Heimatstadt Magdeburg im Sommer 1944 zu unserem fast 80jährigen Onkel geflohen. Dem Witwer führte meine Mutter den Haushalt. Mein Vater war Soldat in Norwegen. Die deutsch-russische Front war am Eingang zum Gebirge, etwa zwanzig Kilometer vor unserem Ort, stehengeblieben. Verteidigt wurden wir zuerst von Fallschirmjägern, die vom Monte Cassino in Italien abgezogen worden waren, und zuletzt von Truppen der Waffen-SS, die nach der gescheiterten Ardennen-Offensive zu uns verlegt worden waren.

Am 8. Mai spielten wir in der Nähe des Friedhofs vor dem Ort. Plötzlich sahen wir in der Ferne einen russischen Reiter auftauchen, der aber sofort kehrt machte. Wir rannten ins Dorf und verkündeten die Nachricht. Sofort hingen die Menschen weiße Tücher und Bettlaken aus ihren Fenstern und hofften, daß ihnen als Österreichern nichts passieren würde. Mein Onkel und meine Mutter arbeiteten im Garten und ließen sich nicht stören.

Dann zogen die Russen ein: auf Panjewagen, bewaffnet mit Kalaschnikows, keine Panzer, keine Geschütze, keine Flugzeuge. Auch manche Soldatin war dabei. Die Russen hielten sich zurück, kamen nur ab und zu katzenartig von ihren Wagen herunter und klauten den verdutzten Österreichern, die an der Straße standen, ihre Uhren. Eine Frau war wohl auch vergewaltigt worden. Die Russen zogen weiter Richtung Steiermark, wohin die Engländer vorrückten.

In den nächsten Tagen erhielten wir drei russische Offiziere mit einem Burschen, Nikolaj, als Einquartierung. Auch sie verhielten sich anständig. Nikolaj fischte mit Handgranaten. Wir aber stöberten in dem von der Waffen-SS zurückgelassenen Kriegsgerät. Sie selbst hatten sich am 7. Mai in Richtung Oberösterreich zu den Amerikanern abgesetzt. Nach einigen Tagen erschienen russische Soldaten bei meinem Onkel und wollten ihre geklauten Uhren repariert haben. So lernte ich meine ersten russischen Wörter: Tschisti tschasy! (Reinige die Uhr!)

Wir hatten das Dritte Reich als selbstverständlich hingenommen. Von der Judenverfolgung und den Greueln des Krieges wußten wir nichts. Im "Deutschen Jungvolk" hatten wir begeistert an der vormilitärischen Ausbildung teilgenommen. Meine Eltern waren keine aktiven Nationalsozialisten, traten jedoch auch nicht offen dagegen auf. Im Kriege hatten wir keinen Angehörigen verloren. Trotz allem empfanden wir das Kriegsende nicht als Befreiung, sondern als Niederlage Deutschlands.

Bertolt Brandt, Schöneiche

Foto: Amerikanische Soldaten des 222. Infanterieregiments nehmen am 24. April 1945 bei Dachau Waffen-SS-Soldaten gefangen


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