© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/05 06. Mai 2005

Durch Danzig
Kampf bis zur letzten Minute
Harry Händler

Im Kessel von Heiligenbeil in Ostpreußen leisteten wir Soldaten der Deutschen Wehrmacht der anstürmenden Roten Armee trotz deren zigfacher Überlegenheit an Menschen und Material bis zum letzten Tag, dem 27. März 1945, erbitterten Widerstand, um der vor den Russen fliehenden ostpreußischen Bevölkerung den Rücken freizuhalten. Unter Zurücklassung allen Materials setzten wir uns in der Nacht vom 27. zum 28. März 1945 mit Flößen, die aus Brettern und leeren Benzinkanistern bestanden, über das Frische Haff, das dort etwa zehn Kilometer breit ist, nach Pillau ab. Im Samland konnten wir uns im Raum Rauschen und Georgenswalde bei Schanzarbeiten etwas erholen. Dann ging es - vom Artilleristen zum Infanteristen geworden - zu Fuß über die Frische Nehrung bis in den Raum Danzig. Die HKL verlief etwa im Raum Tiegenhof, wo wir unsere Stellung im vorderen Graben bezogen. Da die Weichselniederung überschwemmt war, standen wir Tag und Nacht im Wasser.

Am Morgen des 9. Mai 1945 - es war ein herrlicher Frühlingstag - schallte deutsche Marschmusik aus Lautsprechern von der russischen Seite zu uns herüber. Dann sprachen deutsche Überläufer, die sich im "Nationalkomitee Freies Deutschland" zusammengefunden hatten: "Deutschland hat kapituliert, Kameraden, stellt den Kampf ein und kommt ohne Waffen mit erhobenen Händen herüber, ihr werdet als Kapitulationstruppen in wenigen Monaten in eure Heimat entlassen." Doch nicht ein einziger tat das.

Gegen 16 Uhr kamen die Russen auf breiter Front unter lautem "Urää"- Geschrei auf uns zu. Ich brachte mein Gewehr in Anschlag und wollte schießen, denn das mit der Kapitulation mochte keiner glauben. Doch mein Kamerad, ein älterer Obergefreiter sagte, "Junge, nimm das Gewehr runter". Ich befolgte seinen Rat, ich war gerade 18 Jahre alt. Links, etwa vierzig Meter entfernt, war ein MG-Nest, dessen Schütze noch feuerte. Wir hoben also die Hände, man sammelte uns, und wir wurden abgeführt in ein großes Gehöft. Nachdem wir aller Wertsachen und Uhren sowie der Stiefel beraubt waren (wir durften dafür die von den Rotarmisten ausgezogenen Schuhe anziehen), wurde der MG-Schütze in ein Zimmer geführt. Es fielen drei Pistolenschüsse, und er kam nicht wieder zurück. Wohlgemerkt, das geschah nach der Gefangennahme.

Dann sagte man uns, wir sollten zurück zu unseren Leuten gehen und diese auffordern, die Waffen niederzulegen. Es ging natürlich keiner, denn wir fürchteten, "auf der Flucht" von hinten erschossen zu werden. Diese Truppe nahm uns noch zwei oder drei Tage mit und gliederte uns dann in eine der großen Kolonnen von deutschen Kriegsgefangenen ein, die zu den Sammelpunkten marschierten. In Danzig entdeckte ich in einer Kolonne viele Kameraden meiner Einheit und reihte mich in einem unbewachten Augenblick dort ein. Im Kreise von vertrauten Kameraden fühlte ich mich in dieser Situation so etwas geborgen.

Es ging nun also wieder raus aus der Stadt. Traurig machte uns alle, daß am Straßenrand viele deutsche Frauen berichteten, wie sie von den Russen 25 Mal vergewaltigt worden seien. Sie flehten uns an, ihnen zu helfen, doch wir waren rechtlos geworden und wurden von Posten mit schußbereiten Waffen bewacht. Der Marsch ging tagelang bis nach Deutsch Eylau, wo in einer Siedlung ein riesiges Lager errichtet wurde. Den Stacheldrahtzaun mußten wir selbst bauen. Es sollen etwa 55.000 Mann dort gewesen sein.

Am 11. September 1945 wurden wir in Waggons verladen, und nach drei Wochen Bahntransport hielt der Zug in Narva, der Grenzstadt zwischen Rußland und Estland. Hier befand sich schon ein Hauptlager. Mit den meisten meiner Kameraden kam ich dann nach Kingisepp in ein Nebenlager. Am 29. November 1949 wurde ich in die Heimat entlassen, vier Jahre nach der Kapitulation. Die russischen Menschen, mit denen wir manchmal bei der Arbeit zusammenkamen, versuchten uns oft zu trösten: "Kamerad, skoro damoi", was soviel heißt wie bald nach Hause. Doch die Realität war anders. Ein russischer Offizier sagte mal zu mir: Ihr müßt fünf Jahre hierbleiben und erst noch eine Brücke und eine Straße bauen. Wir haben beides gebaut.

Harry Händler, Wörnitz


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