© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/05 06. Mai 2005

Empfang mit Beethoven
Einmarsch der US-Truppen in Württemberg
Georg F. Kempter

Die Familie Kempter bewirtschaftete während des Krieges das "Schloßgut Engelberg" im Württembergischen - ein historisch interessanter Ort, denn dort befindet sich ein ehemals herzogliches Jagdschloß, das 1602 auf den Ruinen eines Augustiner-Eremiten-Klosters errichtet wurde. Meine Familie kaufte das Gut im Jahr 1932, und glücklicherweise kam ich bald darauf zur Welt, so daß ein "Erbhofbauer" vorhanden war, wie es die neue nationalsozialistische Gesetzgebung forderte.

Dieser Ideologie standen meine Eltern als Anthroposophen sehr fern. Mit manchen Juden waren sie befreundet, einen versteckten sie während mehrerer Monate. Sie waren zwar nicht in den "Widerstand" verwickelt, doch ahnten sie zumindest davon, denn ein Bekannter hatte ihnen gesagt: "Es ist schon die Axt an die Wurzel gelegt!" Immerhin wurde mein Vater von der "Gestapo" verhört. Vorsichtshalber hatte er zuvor seine anthroposophischen Bücher in Umschläge unserer Klassiker gesteckt, was zu der Äußerung Anlaß gab: "De Geede on de Nofalis, den henn se älle!"

Es war in der Kriegszeit für einen Gutsbesitzer durchaus gefährlich, nicht "PG" - also "Parteigenosse" zu sein, wie wir sogar direkt auf dem Engelberg erlebten: Der Oberhofbauer Funk - ebenfalls nicht "PG" - wurde von Polizisten in die Schorndorfer Ziegelei beordert und kehrte nie mehr zurück. Auf seinem Hof wurde ein anderer Bauer eingesetzt. Wir aber hatten eine "Versicherung im Himmel": Jede Woche wurde vom Engelberg aus ein Kistchen mit Gemüse an Rudolf Heß - den "Stellvertreter des Führers" - nach Berlin geschickt, der sich schon damals für die biologisch-dynamische Wirtschaftsweise interessierte, welche auf Anregungen von Rudolf Steiner zurückgeht und bei uns sofort nach dem Kauf des Schloßgutes eingeführt worden war.

Mein Vater als Vertreter des "Nährstandes" war "uk gestellt", das heißt "unabkömmlich". Das Gut wurde im wesentlichen von französischen Kriegsgefangenen bewirtschaftet, die mein Vater gut behandelte und zu denen wir Kinder ein geradezu liebevolles Verhältnis entwickelten.

Erst in den letzten Kriegstagen wurden deutsche Soldaten, die sich auf dem Rückzug von Rußland befanden, bei uns einquartiert. Besonders für uns Kinder war dies unendlich interessant. Wir lernten, wie man Fußlappen wickelt, wie man mit der "Gulaschkanone" kocht und Gewehrläufe putzt. Bald waren wir auch selbst im Besitz von allerhand Waffen, Eierhandgranaten und sogar einer Panzerfaust.

Doch dann war es soweit, daß ein unendlich langer Zug von völlig erschöpften deutschen Soldaten und Offizieren, teils motorisiert, teils zu Fuß, teils auf Pferden, auf welche brutal eingedroschen wurde, die Landstraße hinter dem Schloß hinaufzog: das geschlagene deutsche Heer! Es konnte einem der Anblick fast das Herz brechen. Wochen, Monate, Jahre vorher hatte man die Flieger-Angriffe erlebt. Einige Bomben waren auch in unserer Gegend abgeworfen worden, freilich ohne größeren Schaden zu verursachen, doch der rote Himmel im Westen, der andeutete, daß Stuttgart brennt und der einen das damit verbundene Elend zumindest ahnen ließ.

Nachdem das besiegte deutsche Heer über alle Berge weitergewandert war, krachten Kanonenschüsse über uns hinweg. Kurz darauf sah man vom Giebel des Schlosses aus, wie sich die motorisierten amerikanischen Truppen näherten. Bald machten sie Halt vor dem Schloß. Vorsichtig verließen sie mit vorgehaltenem Gewehr ihre großen Panzerwagen. Man sagte uns, das seien Sträflinge, deren Leben nicht als besonders wertvoll erachtet werde. Sie stellten zwei Kanonen vor dem Schloß auf, dessen Bewohner sich auf Anordnung meines Vaters hin im Luftschutzkeller versammelt hatten.

Großartig war meine Mutter, die Gott sei Dank Englisch sprach, denn statt sich in Ängsten zurückzuziehen, verhandelte sie mit dem "deliverer", einem amerikanischen Offizier. "I am glad you are here", sagte sie und bat ihn und die hereinkommenden amerikanischen Soldaten ins Musikzimmer, nachdem sich der Haupttrupp in das Kurhaus nebenan verzog und dieses - nicht das Schloß! - requirierte. Ehe die Soldaten eintraten, wurde ihnen mitgeteilt, es spiele ihnen nun eine berühmte Pianistin zum Empfang vor. Es war dies Baronin Christa von Schmidtseck, eine Furtwängler-Schülerin, die bei uns als Gärtnerin arbeitete, nachdem sie aus dem Osten fliehen mußte.

Die Gärtner-Musikerin saß schon am Flügel und als sich die Männer nun auf den Sesseln, dem Sofa, oder ihren eigenen Helmen niedersetzten, war plötzlich eine ganz veränderte Situation. Das Zimmer war jetzt voll Militär und nun ertönte, mit großem Schwung vorgetragen, die "Pathétique" von Beethoven. Alle waren sie ernst, wie aus dem Kriegsgeschehen herausgerissen, plötzlich menschlich - man kann sagen: andächtig. Sie bedankten sich, und als sie durch die Zimmer gingen und Umschau nach Waffen hielten, geschah dies in ganz geordneter, freundlicher Weise. Befreiung oder Niederlage? Für uns war es tatsächlich ersteres. 

Georg F. Kempter, Engelberg


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