© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/05 13. Mai 2005

Nascha pobeda! - Unser Sieg!
Rußland: Am "Tag des Sieges" stand Moskau im Zeichen der Sowjet-Nostalgie / Ablenkung vom tristen Alltag
Rudolf Nadolny

Nascha pobeda! - Unser Sieg!" So stand es geradezu beschwörend auf den Plakaten zum 60. Jahrestag des Sieges, welche zu Hunderttausenden in der russischen Hauptstadt und im ganzen Land aushingen. Präsident Wladimir Putin sprach sogar von einem "heiligen Sieg". Doch die historische Erfahrung lehrt, daß, wann immer die Politik zu Heiligsprechungen neigt, sich die inneren Angelegenheiten des Staates in Schieflage befinden müssen.

Demographisch schrumpft Rußland dramatischer als alle EU-Länder. Der ungelöste Tschetschenien-Konflikt (bei dem der monatliche Blutzoll inzwischen über dem des Afghanistankrieges liegen soll) droht in einen Regionalkonflikt auszugreifen. Unkontrollierte Einwanderung aus China und Mittelasien verschärft die soziale Lage. Epidemien wie Aids und Rauschgift breiten sich im Eiltempo aus. Die Schere zwischen Arm und Reich will sich nicht schließen, zur Herausbildung einer nennenswerten Mittelschicht ist es nicht gekommen. Eine Handvoll Holdings kontrollieren 80 Prozent der privaten Wirtschaft.

Weil die Politik der Probleme nicht Herr wird, versucht die Führung propagandistisch gegenzulenken. Dafür versuchte man zunächst, die Bevölkerung durch Anmahnung terroristischer Gefahren zu integrieren. Die schockierenden Geiselnahmen in Moskau (JF 45/02) und Beslan (JF 38/04) schienen der Regierung recht zu geben. Weil sich damit kaum positive Identifikationsmomente gewinnen ließen, wurden die Chefideologen des Kremls angewiesen, sich stärker bei der Suche nach einer "nationalen Idee" einzuschalten. Daß es dabei um ein Aufgreifen sowjetischer Traditionen gehen würde, deutete sich bereits an. Die Vorbereitungen zum 60. Siegesjubiläum waren daher umfassend.

Alles bisher Dagewesene sollte überboten werden. Moskau wurde in der Darstellung der russischen Medien zum Zentrum des Planeten. Über 50 Staatsführer, darunter Kanzler Gerhard Schröder, waren angereist und mit ihnen Tausende Journalisten aus aller Welt. Bereits Wochen zuvor war die russische Hauptstadt generalstabsmäßig auf den Ansturm der Weltöffentlichkeit vorbereitet worden. Heroische Plakate und patriotisches Beiwerk wurden kostenlos an alle Supermärkte, öffentliche Einrichtungen und Tausende Kioskbesitzer verteilt. Die Einfallsstraße vom Flughafen ins Zentrum wurde im Eiltempo hergerichtet und die gesamte Innenstadt mit Flaggenpracht und patriotischer Kulisse ausstaffiert. Moskau am 9. Mai 2005 - ein "Potemkinsches Dorf".

Ungeachtet ihrer unbestrittenen internationalen Dimension zielte die eigentliche politische Bedeutung der Inszenierungen vor allem nach innen - was aus traditionell-russischer Sicht die anderen Ex-Sowjetrepubliken mit einschließt. Für Russen wie für einen Teil der anderen über hundert Völker der ehemaligen Sowjetunion ist der 9. Mai bis heute ein wichtiger öffentlicher Feiertag. Die außerordentliche Wichtigkeit dieses Tages begründet sich dabei nicht allein durch das Gedenken an den opferreich errungenen Sieg. Seine für die Region vorrangige politische Bedeutung besteht vor allem darin, daß der so verlustreiche "Große Vaterländische Krieg" das symbolhafte historische Integrationsmoment darstellt, welches Russen und die vielen anderen ex-sowjetischen Völker bis heute verbindet.

Der Sieg über das nationalsozialistische Deutschland wird in Minsk, Moskau, Almaty oder Taschkent vor allem als Erfolg der Sowjetunion gesehen. Angesichts dessen stößt es allgemein auf Unverständnis, wenn im Ausland, insbesondere im Baltikum, Kritik an ihrer historischen Rolle als "Befreier Europas" geäußert wird (JF 19/05). Insofern ist die Auseinandersetzung mit den Balten mehr als eine diplomatische Affäre (JF 14/05).

Hinzu kommt, daß Moskaus Einfluß in der Gesamtregion zuletzt unerwartet schnell erodiert. Die jüngsten Machtwechsel in Georgien und der Ukraine oder die antirussischen Tendenzen bei den regierenden Kommunisten in Moldawien demonstrierten das auf eindrückliche Weise. Die außenpolitische Elite Moskaus reagierte alarmiert. Das Siegesjubiläum spielte somit der russischen Führung eine willkommene Gelegenheit in die Hände, diesen Entwicklungen subtil und dennoch äußerst wirkungsvoll entgegenzutreten.

Bekanntermaßen wünscht sich der Großteil der Russen, aber auch große Bevölkerungsteile Weißrußlands, der Ukraine und in den armen asiatischen Republiken die Sowjetunion zurück. Ihr Untergang wird zumeist als geschichtliche Katastrophe oder Tragödie gesehen. Alljährlich am 9. Mai erfährt diese nostalgische Rückbesinnung ihren Höhepunkt, was allerdings wenig mit der Sehnsucht nach einer Rückkehr zur kommunistischen Ordnung zu tun hat, sondern vielmehr mit weitverbreiteter Orientierungslosigkeit. Angesichts dessen wurde der "Tag des Sieges" schon Mitte der neunziger Jahre zu einem "Sowjetunion-Nostalgietag", an dem die alten Symbole präsent waren.

Diesmal jedoch überstieg das Aufgebot alle Erwartungen. Die gesamte Choreographie der Feierlichkeiten beschwor nahezu den sowjetischen Kontext des Sieges wie ein Vermächtnis vor allem auch für die politische Zukunft des post-sowjetischen Raumes.

Tief griffen die Verantwortlichen in die Asservatenkammer des einstigen Imperiums. Moskau tauchte in das vertraute rote Fahnenmeer, die Militärparade wurde bewußt historisierend choreographiert, und aus den Ex-Sowjetrepubliken zugereiste Veteranen erfuhren besondere Aufmerksamkeit. Kaum überraschen konnte es da, wenn die zunehmend wieder staatlich kontrollierten russischen TV-Sender, welche in allen ehemaligen Republiken empfangen werden, sich wie selbstverständlich an die Seite dieser Mission stellten.

Westliche Kommentatoren blendeten diese Dimension der Feiern meist aus. Die innerrussische Diskussion ließ keinen Zweifel an der Bedeutung des 9. Mai für den gesamten post-sowjetischen Raum und der Notwendigkeit seiner Instrumentalisierung zum Erhalt russischer Einflußnahme. "Nichts ist vergessen, niemand wird vergessen" (die Standardinschrift sowjetrussischer Weltkriegsmahnmale) erhielt aus dieser Sicht eine ganz neue, post-sowjetische Bedeutung. Es stimmt überaus bedenklich, wie naiv die anwesende weltpolitische Prominenz ihrer Vereinnahmung durch Moskau erlag.


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