© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/05 13. Mai 2005

Pankraz,
Reineke Fuchs und der Glanz der Schelme

Pfingsten, das liebliche, ist nicht nur Fest der Glaubensverkünder und Missionare, es ist auch das Fest der Schelme. Ihr Repräsentant und Wappentier ist der Fuchs, "Reineke Fuchs", den Goethe in seinem Epos von 1793 so köstlich porträtiert hat. Goethes 4.312 Hexameter gelten mit Recht als eine Art Geburtsurkunde aller Schelmerei, die sorgfältig von bloßer Schurkerei bzw. bloßer Schlauheit abzuheben ist.

Vor Goethe, auch noch in dem niedersächsischen Volksbuch "Reinke de vos" von 1498, das dem Klassiker als Vorlage diente, war "Meister Reinhard" reiner Schurke. Er war den übrigen Schurken, Löwe, Bär, Wolf oder Adler, in Sachen Bosheit vollkommen ebenbürtig, nur in den Methoden unterschied er sich von ihnen. Er war ihnen körperlich unterlegen, aber dafür schlauer als sie.

Schelm und Schurke waren damals lediglich zwei verschiedene Wörter für ein und denselben Bosheitstyp. Später, im siebzehnten Jahrhundert, differenzierte sich das etwas, wohl unterm Einfluß der aus Spanien kommenden "pikarischen Romane". Im Spanischen gab es schon seit langem den "picaro", den "kleinen" Gauner, der sich doch positiv vom "canalla", dem großen, scheußlichen Bösewicht, abhob. Der Picaro war der Held jener neuen Roman-Art, welche in Deutschland außerordentlichen Erfolg hatte und bald unter dem Namen "Schelmenromane" gehandelt wurde.

Freilich haftete diesen Schelmenromanen, die übrigens anonym erschienen, durchweg etwas Proletenhaftes und Barbarisches an, es waren Travestien der herkömmlichen Ritterromane, und der jeweilige Picaro/Schelm machte sich darin, wie zur gleichen Zeit Sancho Pansa über Don Quichotte, über die Trotteligkeit der angestammten großen Herrn, ihre Ideale und Überlieferungen, lustig, konterkarierte sie mit sogenanntem "gesunden Menschenverstand". Besonders schlau ging es in den Schelmenromanen nicht zu. Meistens begnügte man sich mit kleinen, weder anständigen noch sonderlich witzigen Betrügereien, und die Freude, die das beim Leser auslöste, war Schadenfreude.

Erst mit Goethes "Reineke Fuchs" ändert sich das, steigt der Schelm aus der Hefe des Volkes zu anspruchsvolleren Geisteshöhen auf. Reineke gehört ja durchaus zu den Granden des Reiches, teilt mit ihnen die Grundgesten, hat seinen festen Sitz im Rat des Kaisers. Trotzdem nennt ihn Goethe ausdrücklich einen Schelm, einen "Schelm, der viel begangenen Frevels halben des Hofs sich enthielt". Die Granden haben sich wie üblich an Pfingsten zum Reichstag versammelt, aber Reineke glänzt durch unentschuldigte Abwesenheit. Die Empörung über seine Schandtaten und Frechheiten ist groß, man will ihm geballt an den Kragen. Wie Reineke sich aus der Schlinge zieht, darin besteht die Story des Epos.

Es ist also keine Geschichte "Klein gegen Groß", sondern "Einer gegen Alle". Alle haben gleichmäßig Dreck am Stecken, doch nur einer, Reineke, bekennt sich gewissermaßen zu seinem Dreck, versucht nicht, ihn durch pompöse Hinweise auf überkommene Privilegien und Gottes unerforschlichen Ratschluß zu verklären. Auch er "rechtfertigt" sich natürlich dauernd, sogar mit größtem Aufwand, doch seine Suada ist derart angelegt, daß die Zuhörer (und die Leser) ihre ideologische Funktion sofort durchschauen - und dennoch nichts dagegen machen können oder wollen, weil Reineke eben schlicht die "Wahrheit" spricht, nämlich die nackte Rhetorik jener Macht vorzeigt, an die sie alle glauben.

Zum Schluß gibt es, als "Gottesgericht", einen Zweikampf zwischen Reineke und seinem größten Widersacher, Isegrimm, dem Wolf, der dem Fuchs haushoch überlegen ist. Indes, der Sieger heißt auch hier Reineke. Beraten von seinen Sekundanten, dem Otter und dem Dachs, haut er Isegrimm seinen Schwanz ins Gesicht, den er mit ätzendem Urin parfümiert hat. Und anschließend verbeißt und verkrallt er sich mit voller Wucht in die Genitalien Isegrimms, so daß dieser schmerzdurchwühlt aufgeben muß. "Bei den empfindlichsten Teilen ergriff er denselben und ruckte, / Zerrt' ihn grausam. Ich sage nicht mehr - Erbärmlich zu schreien / und zu heulen begann der Wolf ... Er löste sich auf in Ängsten".

Das Bild des Schelms der gehobenen Klasse, das Goethe entwirft, hält etwa die Mitte zwischen Schalksnarr und Schurke. Ihm ist jedes Mittel, auch das grellste, recht, um zum Ziel zu kommen, und dieses Ziel ist stets egoistisch durch und durch. Reineke ist alles andere als ein Robin Hood, wahrhaftig kein Rächer der Enterbten. Andererseits steht er mit seinen Worten gleichsam immer irgendwie neben sich und seinen Taten, genau wie Eulenspiegel. Selbst wenn er seine Rede ganz und gar instrumentell handhabt, ist doch stets ein Ton Distanz beigemischt, ein Widerhall dessen, was sein könnte und eigentlich auch sein müßte.

Der Umstand, daß Goethe das Ganze auch noch in Hexametern erzählt, verstärkt diesen Eindruck ungemein. Ausgerechnet Hexameter! Soeben waren sie von Heinrich Voß und Klopstock in die deutsche Literatur eingeführt worden und blieben dort für erhabenste, feierlichste Anlässe reserviert: Ilias, Messias. Und da kam Goethe und wandte sie an eine deftige Tierfabel von fragwürdigster Moral. Herder, Schiller, Knebel und andere waren sich einig: Das war riskant, gleichwohl voll gelungen, eine große literarische Tat.

Reineke Fuchs, der Schelm, wirkt nicht unbedingt sympathisch, aber doch faszinierend und zu näherer Erkundung einladend. "Wem Hexameter so gut stehen, an dem muß etwas dran sein", sagt sich spontan der Leser. Es wird berichtet, Bertolt Brecht habe seinerzeit den Entschluß gefaßt, das Kommunistische Manifest von Marx und Engels in Hexameter zu fassen. Es soll auch erste Versuche gegeben haben, die vernichtet wurden. Das Manifest eignete sich einfach nicht. Es war nicht schelmisch genug.


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