© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/05 13. Mai 2005

Zwischen den Zeiten
Protestantismus: Zum 125. Geburtstag des angefeindeten Berliner Bischofs Otto Dibelius
Klaus Motschmann

Am 15. Mai jährt sich zum 125. Male der Geburtstag des langjährigen Berliner Bischofs Otto Dibelius - eines der letzten großen Repräsentanten des deutschen Protestantismus. Sein Leben und Werk vergegenwärtigen die radikalen Wandlungen in Kirche und Welt, an denen er aktiv beteiligt war und deren Konsequenzen wir bis heute spüren.

Ein weitverbreitetes Vorurteil über Dibelius besagt, er sei ein "typischer" Repräsentant des kirchlichen und politischen Konservatismus im Sinne des Schlagwortes von "Thron und Altar" gewesen. Davon kann keine Rede sein. Er ist sich der Probleme dieser engen Beziehung von Staat und Kirche bereits im Laufe seiner ersten Dienstjahre in verschiedenen Gemeinden Brandenburgs, Pommerns, Danzigs und - ab 1915 - in Berlin bewußt geworden. In zunehmendem Maße empfand er die Verbindung von Staat und Kirche als eine schwere Belastung für die Verkündigung, bei der es ja nicht nur auf den rechten Glauben, sondern immer auch auf die rechte Glaubwürdigkeit ankommt. Diese wurde aber erheblich beeinträchtigt, weil die Kirche - nicht zu Unrecht! - als eine "Filiale des Staates" verstanden wurde. Dibelius trat deshalb für eine Trennung von Staat und Kirche ein.

Die Revolution von 1918 empfand er als ein "befreiendes Gewitter", mit dem sich eine radikale Zeitenwende ankündigte: der Anbruch eines "Jahrhunderts der Kirche", wie der programmatische Titel seines bekanntesten Buches aus dem Jahre 1926 lautet. Eine Kernaussage darin lautet: "Ecclesiam habemus! Wir haben eine Kirche! (...) Das Ziel ist erreicht. Gott wollte eine evangelische Kirche."

So bitter Dibelius aufgrund seiner persönlichen Einstellung auch die Revolution und die Eingewöhnung in die neuen Verhältnisse geworden ist, so hat er sich sofort an der Neuordnung der Kirche - und damit auch an der allgemeinen Neuordnung - aktiv beteiligt. Neben seinem Pfarramt zunächst als Geschäftsführer des Vertrauensrates im Evangelischen Oberkirchenrat (EOK), ab 1921 als Mitglied des EOK und schließlich ab 1925 als Generalsuperintendent der Kurmark (Regierungsbezirk Potsdam).

Verantwortung der Kirche für Volk und Staat

Dibelius war sich bewußt - und er hat dies weit über seinen Verantwortungskreis hinaus vielen bewußt gemacht -, daß eine lediglich institutionell-kirchenrechtliche Neuordnung nicht ausreicht, um als Volkskirche der Verantwortung für Volk und Staat gerecht zu werden. Es ging vor allem auch darum, die durch Krieg, Revolution und Nachkriegsnot (Inflation) entstandene soziale Not zu überwinden und dem Volk Zuversicht und Orientierung beim Aufbau einer neuen staatlichen Ordnung zu bieten.

In diesem Sinne hat Dibelius, der aus seiner Zugehörigkeit zur Deutsch-Nationalen Partei nie einen Hehl gemacht hat, von 1920 bis 1933 eine rege publizistische Tätigkeit entfaltet. Er war regelmäßiger Kolumnist im Evangelischen Sonntagsblatt und im deutsch-nationalen Tag. In dieser Funktion hat er zu allen wichtigen Problemen Stellung genommen. Dazu gehörte vor allem die entschiedene Ablehnung jeglichen Radikalismus, weil er Ausdruck menschlicher Eigenmacht bei der Durchsetzung politischer Ziele ist.

Selbstverständlich sind in diesen Beiträgen unter den Zwängen aktueller Herausforderungen die Probleme der empirischen Existenz sehr viel eingehender behandelt worden als das eigentliche Wesen der Kirche. Dieses "Defizit" in der Argumentation war Anlaß für eine heftige öffentliche Kontroverse. Karl Barth, später einer der maßgebenden Theologen des 20. Jahrhunderts, widersprach Dibelius entschieden. Er sah die eigentlichen Gefahren für die Kirche nicht in politischen Ideologien, sondern in dem Mangel an "rechtschaffener Theologie". Dieser Mangel sei gefährlicher als alles, was zum Beispiel "der Sowjet-Atheismus gegen das Christentum" unternehmen könne. Doch was ist "rechtschaffene Theologie"?

Mit dieser Kontroverse deutete sich ein unüberwindlicher Gegensatz kirchlicher und theologischer Positionen und die Herausbildung eines zwar ungeschriebenen, aber faktischen Unfehlbarkeitsdogmas in der evangelischen Kirche an. Er hat nicht nur Dibelius schwer belastet - eines seiner Bücher trägt den Titel "In Gegensätzen leben" -, sondern den deutschen Protestantismus insgesamt, insbesondere auch den Kirchenkampf im Dritten Reich.

Die Konfrontation mit den neuen Machthabern in Deutschland deutete sich an, als Dibelius zum "Tag von Potsdam" (21. März 1933) in der Garnisonkirche zwar einen Gottesdienst abhielt, sich aber der Eröffnung des Reichstages in dieser Kirche widersetzte. Im übrigen waren seine mehrfachen Verurteilungen nationalsozialistischer Gewaltakte in der Weimarer Republik nicht vergessen. Nach den Kirchenwahlen im Sommer 1933, bei denen die Deutschen Christen die Mehrheit erzielten, wurde Dibelius in den Ruhestand versetzt.

Dieser Ruhestand erwies sich allerdings schon sehr bald als "Unruhestand" in des Wortes mehrfacher Bedeutung. Nach der Devise "Ein Christ ist immer im Dienst" - so der bezeichnende Titel seiner Autobiographie (1961) - war Dibelius mit zahlreichen Aufgaben vollauf im Einsatz für die Bekennende Kirche. Allerdings war er nach dem Urteil Martin Niemöllers "kein Mann der Bekennenden Kirche", was nach Dibelius' eigener Einschätzung zu sechzig Prozent auch stimmte. Eine Erklärung für diese Distanz liegt darin, daß die Bekennende Kirche schon bald unter dem vorherrschenden Einfluß der "Barthianer" stand.

Tatsächlich brachen die Gegensätze vom Ende der Weimarer Republik unmittelbar nach Kriegsende wieder auf. Karl Barth warnte in einem vielzitierten "Wort an die Deutschen" vor einer Restauration in Kirche, Gesellschaft und Politik. Martin Niemöller proklamierte: "Die Landeskirchen sind abbruchreif!" Bei einem beachtlichen Teil der Bekennenden Kirche beobachtete Dibelius eine Aversion gegen alles, "was in Deutschland Staat, Amt oder Behörde hieß", erst recht in der Kirche.

Diese Vorstellungen einer kirchlichen Neuordnung im Sinne der Barthianer hatten unter den damaligen Umständen keine Chance der Verwirklichung. Abgesehen von den Widersprüchen vieler Landeskirchen und Bedenken maßgebender Theologen bestanden auch die Besatzungsbehörden und die deutschen Verwaltungen auf funktionsfähigen Institutionen zur Bewältigung der immensen Nöte. Hinzu kamen politische Erklärungen von Karl Barth und anderen Theologen, die heftigen Widerspruch auslösten, so zum Beispiel der Rat, "dem russischen Kommunismus aufgeschlossen und verständniswillig entgegenzugehen".

Alte Schuld wurde "bekannt", neue Schuld nicht benannt

Insofern vollzog sich die Reorganisation der evangelischen Kirche nach 1945 relativ schnell und reibungslos. Dibelius trat an die Spitze der Berlin-brandenburgischen Kirche nun mit dem die Bruderräte provozierenden Titel Bischof. 1949 wurde er Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland; 1954 einer der fünf Präsidenten des Weltkirchenrates. Dibelius durfte sich der Zustimmung des Kirchenvolkes und des größten Teils der Pfarrerschaft sicher sein, bei aller Kritik in Einzelfragen. Das innerkirchliche Klima in den Synoden, Kirchenleitungen, Fakultäten, kirchlichen Medien, evangelischen Akademien wurde allerdings in der gleichen Zeit an der Theologie und Kirchenpolitik der Bruderräte ausgerichtet - und damit auf einen Konfrontationskurs zu Dibelius.

Ansatzpunkte der neuerlichen innerkirchlichen Spannungen waren unter anderem die Reaktionen der evangelischen Kirche auf die politische und gesellschaftliche Neuordnung in der sowjetischen Besatzungszone bzw. der späteren DDR. Sie zielte auf eine deutlich erkennbare sozialistische Gleichschaltung des gesamten öffentlichen Lebens ab, was in der Konsequenz auf eine Verdrängung der Kirchen hinauslief. Dibelius scheute sich nicht, dieser Entwicklung offen zu widersprechen. Dies um so mehr, als der evangelischen Kirche im Dritten Reich von namhaften Theologen vorgeworfen wurde, sich durch "falsches Reden und falsches Schweigen" - so Martin Niemöller - am Aufkommen des Nationalsozialismus mitschuldig gemacht zu haben.

In der Stuttgarter Erklärung vom Oktober 1945 haben sich namhafte Kirchenführer zu dieser "Schuld" bekannt, auch Dibelius. Ihm ist die Zustimmung allerdings sehr schwergefallen, weil ihm noch die "fürchterlichen Ereignisse" beim Einmarsch der Roten Armee "in den Knochen lagen. Davon mit keinem Wort zu reden und uns auf das Schuldkonto der Deutschen zu beschränken, war nicht leicht".

Dibelius sah vor allem die Glaubwürdigkeit der Kirche gefährdet, wenn sie dauernd Schuld in der Vergangenheit "bekennt", neue Schuld aber nicht offen benennt. Dies war jedoch nur möglich durch unmißverständliche Kritik am kommunistischen Totalitarismus. Dibelius forderte damit nicht nur massive Propagandakampagnen der DDR gegen seine Person heraus, sondern auch ganz anders motivierte Kampagnen in seiner eigenen Kirche.

Höhepunkt waren "Auseinandersetzungen" um eine kleine Schrift mit dem Titel "Obrigkeit?" (1959), in der Nationalsozialismus und Kommunismus unter dem Oberbegriff "politischer Totalitarismus" subsumiert wurden - und dies, nachdem Karl Barth bereits im Jahre 1949 in einer programmatischen Rede vor dieser Gleichsetzung ausdrücklich gewarnt hatte. Mit dieser Auseinandersetzung in der evangelischen Kirche wurde das Ende des "Jahrhunderts der Kirche" im Sinne von Dibelius angezeigt.

Eine neue Epoche wurde mit dem Beginn der Spaltung Deutschlands im Jahre 1961 durch den Mauerbau eingeleitet. Sie führte im Jahr 1970 zur Spaltung der Evangelischen Kirche in Deutschland, zur Bildung der Kirche im Sozialismus in der DDR und zur Sehnsucht vieler westdeutscher Theologen und Kirchenführer nach einer "sozialistischen Kirche in einem sozialistischen Staat".

Bischof Dibelius hat diese Entwicklung geahnt, aber nicht mehr erlebt. Er ist im März 1966 von seinem Bischofsamt aus Altersgründen zurückgetreten und im Januar 1967 verstorben.

Foto: Bischof Dibelius eröffnet am 12. September 1965 in der Berliner Waldbühne den "Tag der Kirche"


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